Die Verbotskultur

Irgendwann werden wir uns wohl ein neues Auto zulegen müssen. Der 20 Jahre alte Golf fährt noch immer zuverlässig, jedoch unter gelegentlichem Stöhnen und Ächzen. Aber ein Auto, bei dem ich das Fenster nicht mehr eigenständig hoch und runter kurbeln kann, kommt für mich nicht in Frage.

Wenn ich diesen Standpunkt darlege, ernte ich meist nur bedauerndes Lächeln. Eine Dame erzählte mir von ihrem Schrecken, als sie in einem Mietwagen die Abwesenheit der Handbremse bemerkte. Sie fuhr zurück zum Vermieter, um sich die neue Technik erklären zu lassen. Dort erfuhr sie: Bremsseiltechniken gebe es nicht mehr.

Mittlerweile gibt es alles Mögliche: Einparkhilfen, automatische Bremsen, Warnpiepsen beim geringsten „Vergehen“ und moderne Wagen sollen das sogar alles speichern können. „Elektronische Stabilitätsprogramme, die haben fast alle Wagen seit dem Baujahr 2013. Verschiedene Systeme im Fahrzeug speichern Umgebungsdaten, etwa die Temperatur, ob der Gurt angeschnallt ist und manchmal auch die Geschwindigkeit …“

All diese erleichternde, sichernde Technik hat aber auch eine dunkle Seite: sie kontrolliert, verbietet, schränkt ein. Rationalisiert wird in all jenen Bereichen, die traditionell einen Selbstentscheid zuließen, die das Fahren eigentlich erst zur Kunst machten, die den Fahrer in eine Eigenverantwortung entließen, die ihn in die Gefahrenwahrnehmung zwangen. Überall, wo Feinheiten, Individualität, Stil eine Rolle spielten, schreitet die Technik ein. Das, was man „Spiel“ oder Freiheit nennen könnte, das, was das Autofahren eigentlich ausmacht, wird nun reguliert.

Gesamtgesellschaftlich weitergedacht, auf alle übrigen technischen Fortschritte übertragen (elektronisches Haus, Kinderüberwachung, GPS u.v.m.) muß das zwangsläufig zum mehr und mehr entmündigten Menschen führen. Es wird ihnen die Entscheidungsfähigkeit abtrainiert. Kinder, die heute in einer solchen Welt aufwachsen, werden später vermutlich, wenn das Leben selbständige Entscheidungen einfordert, panisch reagieren und versagen.

Wir finden das Verbotsdenken allerorten. Es kommt nicht mehr mit dem lauten Befehl und physischer Strafe, sondern subtil als Fortschritt, als Wissenschaft oder als Ideologie verkleidet und stets mit dem Anspruch, helfen zu wollen und gut zu uns zu sein.

So wurde innerhalb weniger Jahrzehnte das Rauchen nahezu eliminiert. Auf einer Familienfeier – es wurde ein 80. Geburtstag gefeiert – bekannten fast alle älteren Herrschaften, einst starke Raucher gewesen zu sein. Nun blieb die Raumluft klar – vielleicht hätte der eine oder andere die Hochbetagtenfeier nicht erlebt, wenn er das „Laster“ nicht aufgegeben hätte?

Gegenwärtig ist er Alkohol an der Reihe. Es häufen sich ganz auffällig die Studien, die belegen wollen, daß selbst kleinste Mengen Alkohol gesundheitsschädlich seien, daß die einst viel gerühmten Vorteile des einen Glases Bier oder Wein Legende seien oder doch von den Nachteilen deutlich überwogen würden. Von den Pálinka-, -Whiskey,- Cognac-Kulturen ganz zu schweigen. Wir dürfen davon ausgehen, daß wir in einigen Jahrzehnten alle Antialkoholiker geworden sein werden und auch auf der Familienfeier war die Getränkeliste erschreckend überschaubar.

Was hatten wir früher für grandiose Gelage! Inmitten dicken Qualms verstand man sein eigenes Wort nicht, weil hochrote Köpfe sich einen derben Witz nach dem anderen zuriefen, laut lachten, wenn man sich auf die Schultern klopfte, „komm, Gerhard, wir trinken noch einen“ zurief oder „auf einem Bein kann man nicht stehen“ und ähnliche Weisheiten und jeder jedem alles verzieh. Heute sitzen wir bei einem Glas Stillem Wasser zusammen und müssen die Animositäten und Spannungen tapfer herunterschlucken, wie früher den giftgrünen Pfeffi. Ja, Alkohol ist ungesund, aber er hat auch eine soziale Funktion.

Als nächstes kommt wohl der Zucker an die Reihe. Auch ihm wird es an den Kragen gehen und dem Fleisch ist das gleiche Schicksal beschieden

Man verstehe mich nicht falsch. Es gibt tausend gute Gründe, den Zuckerkonsum – oder jedes andere Laster – zu minimieren. Zuerst müßte die unsägliche Macht von Coca Cola und Co. gebrochen werden. Weniges – außer das Verbot selbst – spricht sachlich gegen ein wie auch immer durchgesetztes Verbot der tausend Zuckerwasser, die unsere Jugend vergiften, verfetten und verblöden. Unser exorbitanter Zuckerverbrauch – um bei diesem Beispiel zu bleiben – widerspricht aller Vernunft und unserer Natur. Zu Luthers Zeiten aß ein Mensch im Durchschnitt die Menge von zwei Würfelzuckern an Weißzucker pro Jahr – heute enthält eine einzige Flasche Cola das Neunfache und jährlich essen wir pro Kopf einen ganzen Zentner.

Aber auch hier steht die Frage des Spiels, der Kunst und der Freiheit auf dem Spiel. Die Backkunst, die Konditorei sind ebensolche wertvollen Kulturgüter wie der Tabak – zumindest in seinen Genußformen – oder der Alkohol. Was sie alle vereint, ist ihre Funktion als Trainingsfläche für eigenverantwortliches Handeln. Sie sind Gefahrengüter. Wer ihnen frönt, steht vor der schweren, jedoch notwendigen Aufgabe, die zarte Balance zwischen Genuß und Mißbrauch zu meistern, zwischen Kultur und Unkultur, zwischen Sinnenreiz und Geschmacklosigkeit, zwischen Herr oder Sklave sein.

Dort liegt des Pudels Kern. Eliminiert werden die Risiken des Lebens. Die moderne Gesellschaft als „Risikogesellschaft“ zu beschreiben, wie das Ulrich Beck[1] eindrucksvoll getan hatte, erfaßt nur eine Seite der Realität, die andere müßte sie als Nichtrisikogesellschaft beschreiben, besser als Entmündigungsgesellschaft. Den Menschen werden mehr und mehr Entscheidungen über ihr eigenes Leben entzogen und nicht selten durch moralischen Druck, der vom wissenschaftlich-medialen Komplex aufgebaut wird, und stets unter der Flagge der guten Vorsätze. Wir sind alle auf Entzug – auf Freiheitsentzug.

Das äußert sich auch ganz konkret wirtschaftlich oder politisch.

Gerade arbeitet der Medienkomplex daran, uns die bargeldlose Zeit als Ideal zu entwerfen und überhaupt als „alternativlos“. „Wirtschaftsexperten“ glauben, ihr stärkstes Argument in der Bequemlichkeit vorbringen zu können. Wie schön es doch sei, im Supermarkt einfach die Karte zücken zu können, statt Geld abzählen zu müssen. Der „gläserne Kunde“ wird als zu handhabender Kollateralschaden kleingeredet, die eminente Gefahr der finanziellen Existenzvernichtung – wie sie bereits bei Aktivisten wie Martin Sellner probiert wurde – wird verschwiegen. In einer bargeldlosen Welt wäre es ein Leichtes, unliebsame Kritiker schlicht und einfach und gänzlich ohne Gewalt, verschwinden zu lassen. Außerdem hängt virtuelles Geld zwangsläufig von der Existenz des virtuellen Raumes ab – kollabieren Internet, werden Viren aktiv oder fällt ganz banal der Strom aus etc., dann ist es vorbei mit der Herrlichkeit.

Oder nehmen wir, abschließend, die Politische Korrektheit. Gerade erleben wir die Zerstörung des Faschings. Eine Frau mit komplett lächerlichem, lorioteskem Doppelnamen erregt sich über Witze darüber. Es erscheinen Artikel, daß es „rassistisch“ sei, sich das Gesicht schwarz zu färben oder als Indianer zu gehen. Kostüme werden medial verbannt, weil sie „Geschlechterstereotype“, wie zum Beispiel sexy Frauen, verbreiteten. Auch hier ist das Spiel, die Freiheit in Gefahr. Fastnachtsumzüge werden mißbraucht, um linksextreme Propaganda zu verbreiten, die als Einzelfall, in einer guten Mischung, kein Problem wäre, die als Monokultur aber die Faschingskultur destruiert. Sie, die Sittenwächter, wissen nichts mehr über den Sinn des Karnevals, des Kostüms, sie haben weder Roger Callois[2], Johan Huizinga[3] oder gar Friedrich Georg Jünger[4]– um nur drei Klassiker zu nennen – gelesen. Sie sind vermutlich ungebildet, aber sie sind gut und glauben, recht zu haben. Tatsächlich arbeiten sie aktiv an der Zerstörung der Gesellschaft, die – darüber ist sich die Sozialwissenschaft einig – das komplett andere, den jährlich einmaligen Ausnahmezustand, die Verkehrung aller Ordnung, die radikale Parrhesia braucht, um stabil existieren zu können. Zumindest war das einst so.

In einer Gesellschaft, in der Rauch und Lachen verboten unterdrückt werden, wird es bald nichts mehr zu lachen geben.

[1] Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. 1986
[2] Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. 1964
[3] Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 1939
[4] Friedrich Georg Jünger: Die Spiele. Ein Schlüssel zu ihrer Bedeutung. 1953

5 Gedanken zu “Die Verbotskultur

  1. Stefanie schreibt:

    Der Vernünftige fragt: Kann mein Handeln allgemeines Gesetz werden? Was wenn jeder/ immer das tun würde, was ich tun will (Rauchen, Alkohol oder Cola trinken, Fleisch essen etc.) Wie säe eine solche Welt aus? Will ich in solch einer Welt leben? – Daraus zieht er dann Schlüße für sein eigenes Verhalten.

    Der Weltverbesserer erliegt der Umkehrung des kategorischen Imperativs: In was für einer Welt will ich leben? Wie soll sie aussehen? Was müßten alle tun, damit sie so aussieht, wie ich es mir wünsche? Was dürfte keiner/niemals tun? – Daraus heraus entwickelt er Maximen, Verbote und Gesetze, an die sich alle halten sollen.

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    • Der Realistische sagt: Die Welt bewegt sich nicht an, sondern zwischen diesen Polen, die selbst nur abstrakte Idealtypen sind. Der Realistische fragt sich also, wie sich das Vernünftige durchsetzen lassen könnte und idealerweise ist das Vernünftige auch das, was „die Welt besser macht“ oder wenigstens nicht schlechter oder wenigstens nicht schlechter als notwendig.

      Das Problem gesellschaftlichen menschlichen Seins, ist das permanente Aushandeln lebbarer und zukunftsträchtiger Varianten innerhalb dieses Spannungsbogens. Verabsolutierungen einer Seite führen in der Regel in (praktische und logische) Schwierigkeiten.

      Wenn es z.B. – weil ich das gerade lese – in der „Generation Z“ nur 11% gibt, die bereit wären, ihren Plastikkonsum zu verringern, wenn Plastik aber zusehends als existenzbedrohend erkennbar ist – für den Vernünftigen war es das übrigens schon seit Stunde 1 -, dann sollte es möglich sein, den Plastikverbrauch, die Produktion etc. nach Dringlichkeit abgestuft, politisch einzuschränken und wenn das demokratisch nicht geht, dann könnten auch andere Lösungen in Frage kommen – vorausgesetzt, man ist sich in der Gefahrenbeschreibung einig und in Abhängigkeit der Dringlichkeit. Plastik = X. X = Atom, Bornographie oder Cola …

      Auch Regulieren ist ein feines und sensibles Spiel auf schmalem Grat. Aber notwendig. Der Artikel wendet sich nicht gegen sensible Regulierung, sondern gegen ihre ideologische Untermauerung. Anzustreben ist eine gesunde Selbstregulierung – dort, wo das nicht möglich ist (weil kollektive Intelligenz individuelle oft unterbietet) – sollte nachgeholfen werden. Historisch sind Zivilisationen am Unwillen oder an der Unfähigkeit dieser Regulation zugrunde gegangen.

      Die Alternative wäre, (idealtypisch) zu Ende gedacht: Freiheit in den kollektiven Untergang. Also Todeszwang. Freiheit = Unfreiheit.

      https://www.welt.de/wirtschaft/article190002545/Generation-Z-So-widerspruechlich-ist-ihr-Einkaufsverhalten.html

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  2. Jochen Schüler schreibt:

    „Einer durch Diktatur gestatte großeFreiheit“
    Rätselhafter,oxymoronartiger Satz.

    Die Invektive gegen COLA erinnert an meine Kindheit.
    Der Wunsch dieses Getränk mal zu verkosten,wurde mit der Androhung körperlicher Züchtigung
    und dem Urteil:“Dieser ungesunde Ami-Mist kommt mir nicht ins Haus“ abgefertigt.

    Apfelsaft,mit dem gleichen Zuckergehalt+den Aflatoxinen aus den angegammelten Äpfeln,den
    mitgepressten Mäusen und Insekten+den in fast allen Fruchtsäften enthaltenen Alkohol war
    aber sehr OK
    Erinnert mich irgendwie an ihren „faktenbasierenden“Einspruch gegen das Fleischessen +pro
    Pflanzenkost(wobei Sie Pflanzenleben ,Leistungen,fremdartiges Bewusstsein aber wohl sehr
    gering schätzen),die aber ohne tote Tiere auch nicht zu haben ist.

    Mit Industrieller Landwirtschaft hat das übrigens nicht zu tun.Ich kann mich noch gut an die
    kleinbäuerliche Landwirtschaft meiner Kindheit (Anfang 60er) bei der Verwandtschaft in Schweden+
    Österreich erinnern,die unfassbar brutal(in meinem kindlichen Urteil) auf das eigene wirtschaftliche Überleben fixiert war.
    Tiere in fensterlosen,winzigen, dunklen Ställen ohne Belüftung,Tierarzt viel zu teuer.Gnadenlose
    Jagd auf Schädlinge aller Art,mit Flinte,Fallen,Gift,Gas usw.

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  3. Ich stimme dem Tenor Ihres Beitrages grundsätzlich zu, doch erlauben Sie mir den Einwurf, daß Sie mit dem Satz: „Weniges spricht gegen ein wie auch immer durchgesetztes Verbot der tausend Zuckerwasser, die unsere Jugend vergiften“, Ihre eigene Position letztlich (und meiner Meinung nach: völlig) desavouieren. Denn natürlich spricht auch in allen anderen genannten Fällen „weniges“ dafür, aus irgendwelchen freundlichen Gründen dies und das und jenes zu verbieten.
    So reitet dann jeder sein Steckenpferchen bzw. bringt seinen „pet peeve“ aufs Tapet, fordert und erhält sein angeblich und anfangs ja auch immer minimales Verbot (das aber nie minimal bleibt, da Menschen eben Menschen sind und ihre Wege finden), weil der andere seines ja auch bekommen hat. „Weniges spricht gegen ein Rauchverbot in Kneipen“, sagt der Nichtraucher; „Weniges spricht gegen eine automatische Geschwindigkeitskontrolle und -begrenzunng“, sagt der VW-Polo-Fahrer, „Weniges spricht gegen verbindliche Sprachvorgaben im Fernsehen“, sagt der PC-Jünger. Nein, hier geht es mal wirklich um’s Prinzip: Wenn man Freiheit aushalten muß, dann eben auch da, wo ihre Folgen einen besonders verdrießen.
    Meine Meinung ist, daß man vor diesen Verbots- und Bevormundungsfreunden keinen Fußbreit freiwillig zurückweichen sollte, weil die von alleine nämlich nie stehenbleiben werden. Mit dem Rauchen haben Sie eines der besten Beispiele dafür, aber mit unseren SJW-Jüngern ist es dasselbe: Die Schrauben des Erlaubten werden immer enger gedreht. Denn letztlich geht es (von ein paar genuinen Idealisten abgesehen) doch genau darum: um Macht. „Souverän ist, wer über das Verbot entscheidet.“ Und, natürlich: Über die Quote.

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    • Danke – nun geringfügig modifiziert.

      Die Diskussion hatten wir bereits beim Vegetarismus: Wann und unter welchen Bedingungen dürfen/sollten objektive Fehlentwicklungen administrativ udn rational unterbunden werden. Auch hier, meine ich, eine Frage des Spiels, des Spiels zwischen Freiheit – die, absolut gesetzt, zu ebenjenen Selbstzersetzungen und Totalitarismen führt, wie kürzlich diskutiert – und Zwang. Ich glaube nicht an die vollkommene Freiheit aber ich reagiere sensibel, wenn sie irgendwo beschnitten wird. Umgekehrt: Was wäre mit einer durch eine Diktatur gestatte große Freiheit? etc.

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