Lob der Faulheit

Offenbar hatte der kleine satirische Beitrag über den Unsinn des Laubblasens einiges Unverständnis ausgelöst. Daher lege ich hier eine Grundlegung der Faulheit in zwei oder drei Teilen vor, die sich mit dem Begriff der Arbeit in der Moderne und der modernen Literatur und Philosophie beschäftigt und im weiteren Kontext mit der Frage „Was ist Kynismus“ gesehen werden sollte. Auf Grund der Länge werden die Texte auch als PDF zur Verfügung gestellt.

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Geschichte und Philosophie der Faulheit Teil 1

“What is called a man or woman of action is almost always a deformed and deficient artist who yearns to express himself or herself but, unable to express by creating, must assert by interfering. Such people are our misfortune, and there are good many of them. They cannot find satisfaction in love, friendship, conversation, the creation of contemplation of beauty, the pursuit of truth and knowledge, the gratification of their senses, or in quietly earning their daily bread: they must have power, they must impose themselves, they must interfere. They are the makers of nations and empires, and the troublers of peace … They must impose their standards and way of life. Worst of all, they drive the less clear-sighted of the potentially civilized into self-defensive action – into semi-barbarism that is to say. From these pests comes that precious doctrine, the gospel of work: as if work could ever be good in itself.” (Clive Bell)

Im Nachfolgenden sollen Verteidiger eines „Rechts auf Faulheit“ vorgestellt werden, um eine heterogene Tradition sichtbar zu machen. Diese Tradition ist lang, sie reicht in die Anfangsgründe der Überlieferungen zurück. Besonderes Interesse verdienen dabei jene Köpfe, die der Moderne zugeordnet werden, jene also, die den aufklärerischen und eschatologischen Impuls der Technisierung und des Fortschritts bewußt erlebt und erlitten haben, denn ihre Erfahrungen sind mit den unsrigen noch am ehesten vergleichbar und unter Umständen auch nutzbar. Die Auswahl muß willkürlich bleiben, versucht jedoch, durch die Vielfalt der präsentierten Ansätze, ein Abstraktum jenseits der Ideologien und Weltanschauungen anzudeuten, denn wir arbeiten mit dem Verdacht, uns auf anthropologischer Ebene zu bewegen.

Da sind die Romantiker, die allgemein den fortschrittskritisch gesinnten Reihen zugezählt werden. Friedrich Schlegel etwa und dessen modern anmutendes poetologisches Romanfragment „Lucinde“, das in vielerlei Hinsicht bemerkenswert ist. In unserem Rahmen ist es vor allem die „Idylle über den Müßiggang“, in der ein bedeutender Beitrag zur Verteidigung der vita contemplativa geleistet wurde.

Von „der gottähnlichen Kunst der Faulheit“ ist da die Rede (30), in einer Zeit der allgemeinen industriellen Mobilmachung. Schon Schlegel entging die um sich greifende Hektik nicht, die er als nordische Unart – wir würden heute von einer westlichen Unart sprechen – perzipiert, welche er der orientalischen und südeuropäischen Kunst des Lebens, als Ideal, entgegenhält.

Den Verlust der Mitte beklagt er und mit ihm den des Denkens, Dichtens, Fühlens, an deren Stelle tödliche Langeweile sich ausbreitet – trotz permanenten Tuns. Diesbezüglich dem Aristoteles verwandt, jedoch auf eine ideelle Ebene gehoben, macht er im „Recht des Müßiggangs“ das „eigentliche Prinzip des Adels“ aus. Dem sei Herkules, trotz seiner Aktivitäten bedeutend näher gewesen als der in der Moderne vielgepriesene Prometheus, „der Erfinder der Erziehung und Aufklärung“ (34). Jener verfolgte noch immer das Ziel des Müßiggangs, dieser aber wurde zu Recht, da er den Menschen zur Arbeit verführte, gestraft, indem er zur Arbeit der ewigen Langeweile, die mehr Schmerz beschert als der tägliche Leberfraß, verurteilt wurde.

Vieles von dem, was sich heutigentags, auch im Zuge des sogenannten New-Age-Bewußtseins, als originell geriert, entpuppt sich als aufgewärmte, aufklärungsresistente Romantik. „In der Tat, man sollte das Studium des Müßiggangs nicht so sträflich vernachlässigen, sondern es zur Kunst und Wissenschaft, ja zur Religion bilden! Um alles in eins zu fassen: Je göttlicher ein Mensch oder ein Werk des Menschen ist, je ähnlicher werden sie der Pflanze; diese ist unter allen Formen der Natur die sittlichste und die schönste: Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als reines Vegetieren“ (33).

Nehmen wir Eichendorffs „Taugenichts“, der entgegen seiner märchenhaft-idyllischen Aussagetendenz die kontroversesten Lesarten erfuhr.

Da zieht ein junger, hoffnungsvoller, durchaus begabter Mann, der ob seiner müßigen Veranlagung und musischen Begabung nicht mehr im Elternhaus geduldet wird, hinaus in die Welt, ziellos, arglos, um sein Glück zu machen oder besser: fortzuführen. „Ich hatte recht meine heimliche Freude“, gesteht er beim Auszug aus dem Heimatort fast ein bißchen zynisch ein, „als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich“ (63).

Nicht die romantischen Verklärungen dieses „Hans im Glück“ sind dabei wichtig, sondern der tiefe Blick in die Psyche des Menschen, den Eichendorff hier wagte. Bei aller wohlmeinenden Anteilnahme des Dichters, ist doch der untergelegte Ton einer feinen Ironie nicht zu überhören, die von den Gefahren des an sich anstrebenswerten Müßiggangs weiß. Da ist zum einen der schmale Grat zu bewältigen, der den Abgrund der spießbürgerlichen Konformität und der besinnungslosen Faulheit vom triebhaften und ruhelosen Vagabundieren trennt. Beiden entkommt der Taugenichts knapp – durch die Liebe. Sie bewahrt ihn vor dem wandelnden Exitus im Schlafrock, vor der Faulheit, die „die Schwarte krachen läßt“, ebenso wie vor dem endlosen Umherirren im Vakuum der inneren Leere.

Der obsessive Politikus Thomas Mann gestand in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“, trotz aller Faszination und Anerkennung für das Werk des großen Ahnen, wie wenig er mit diesem Typus, der „der politischen Tugend … in einem wahrhaft liederlichen Grade enträt“ (375), anzufangen wußte. Man wird bei der Beurteilung dieses Urteils nicht umhin können, den Zeitpunkt des Essays zu berücksichtigen, der 1915 und folglich einer hyperpolitischen Epoche entstammt, welcher jeglicher Apolitismus suspekt, ja landesverräterisch sein mußte. Und trotzdem wird man eine Äußerung wie die folgende nicht (mehr) durchgehen lassen dürfen: Der Roman „entbehrt jedes soliden Schwergewichts, jedes psychologischen Ehrgeizes, jedes sozialkritischen Willens und jeder intellektuellen Zucht; er ist nichts als Traum, Musik, Gehenlassen, ziehender Posthornklang, Fernweh, Heimweh, Leuchtkugelfall auf nächtlichen Park, törichte Seligkeit, so daß einem die Ohren klingen und der Kopf summt vor poetischer Verzauberung und Verwirrung“ (376), ist doch gerade in diesem so wortgewaltig umschriebenen Apolitismus die politische Brisanz enthalten.

Heute ist das kaum noch zu übersehen, wo die Stimmen sich mehren, daß die Zähmung der destruktiven Realisationen der Megamaschine durch politischen Eingriff, gleich welcher Observanz, nicht zu bewerkstelligen sei, allein schon weil Politik immer teilhat und sich selbst nicht in Frage zu stellen weiß.

Daß man, um dies zu erkennen kein Unpolitischer sein muß, beweist die Betrachtung eines definitiv Politischen, eines Georg Lukács, übrigens 1940 fixiert, in nicht minder von politischen Ereignissen geladener Zeit, für den „diese schöne, tendenzlose Idylle … eine Revolte gegen die – menschlich gesehen – zwecklose und inhumane Geschäftigkeit des modernen Lebens, gegen die ‚Tüchtigkeit‘, gegen den ‚Fleiß‘ des alten und neuen Philisters“, darstellt, um fortzufahren: „Der Kampf um ein sinnvolles, menschenwürdiges Leben“ – für ihn noch ausschließlich „im Kapitalismus“ – „ist weitgehend ein Kampf um die Muße“. So enthält der „Taugenichts“ zwar „unmittelbar nichts Gesellschaftskritisches“, doch lebt er fort aufgrund der Mittelbarkeit, die in einem solchen Zusammenhang ohnehin angenehmer zu sein scheint.

Beide, Mann und Lukács, und beide zu Recht betonen, übrigens die Differenz zur Boheme, wobei der eine auf deren Natur- und Literaturferne zielt, der andere auf die bereits vollzogene Integration in das kapitalistische System. Der Figur Eichendorffs und den Helden Henry Murgers[1] bleibt aber gemeinsam die Position des passiven Widerstands gegen die Beschleunigungstendenz der politischen Kinetik, und gerade darin erkennen wir die subversive Macht. So gesehen erhält Manns Aussage in ihrer Umkehrung neue Aktualität: „Denn man ist selbstverständlich ein Taugenichts, wenn man nichts weiter prästiert, als eben ein Mensch zu sein“ (381).

Am Ende eines Lebens steht immer die Frage nach dem Sinn, und es scheint, als ob die abschließende Antwort des Taugenichts, „und es war alles, alles gut“, die glückhaftes, erfülltes Leben intendiert, gegenüber einem Lebensresultat, das alles als richtig oder erfolgreich konstatieren kann, einige Vorteile aufzuweisen hat, die gerade in der jetztzeitigen Situation vielen Menschen wieder verständlich werden.

Wilhelm Raabes Spätwerk „Stopfkuchen“ kann als deutsches Pendant zum großen Oblomow-Roman[2] gelesen werden.

„Stopfkuchen“, so wird er im Ort genannt, der Dickste, der Faulste und Gefräßigste von allen (17), den man auch für den Dümmsten hält. Im Laufe des Romans wird klar, wie oberflächlich diese Namensgebung die Hauptfigur umschreibt. Da trifft dessen eigentlicher Name, Heinrich Schaumann, eher den Charakter, dessen Fähigkeiten. Schon im Knabenalter von seinen Gefährten gehänselt, beginnt er sich zu isolieren, legt er sich einen seelischen Panzer zu, an dem all die kindlichen Gewalttätigkeiten abprallen. Einzig Eduard, der Erzähler, hat Zugang zu ihm. So führt Stopfkuchens Weg zum Verfemten des Ortes, einem Eigenbrötler, dem seit Jahren ein Mord nachgesagt wird. Und er führt zu dessen mannbarer Tochter, die Stopfkuchen später ehelicht. Das Leben der beiden bleibt ein Mysterium, denn kaum einmal verlassen sie ihr weit abgelegenes Gut, die „Schanze“. Auch als nach Jahrzehnten der alte und einzige Freund, mittlerweile ein vielgereister, weltgewandter Mann, der in Südafrika eine neue Heimat gefunden hat, zurückkehrt, lebt Stopfkuchen noch immer im selben Haus, über dessen Pforte scheinbar paradoxerweise die Aufforderung Gottes an Noah geschrieben steht: „Gehe aus deinem Kasten“.

Im Verlaufe der Handlung wird dann deutlich, daß es sich hierbei keineswegs um einen Widerspruch handelt, wohl aber um eine bewußte Reaktion, mit paradiesischen Zügen, auf das Säkularisat der Fortschrittsgläubigkeit, des Beschleunigungsrausches und des Arbeitsethos der modernen Gesellschaft, das einst in einer heilsmotivierten Ästhetik wurzelte.

Stopfkuchen klärt den Freund auf: „Weil ihr ein bißchen weiter als ich in die Welt hinein euch die Füße vertreten habt, meint ihr selbstverständlich, daß ich ganz und gar im Kasten sitzengeblieben sei.“ (73) und zeigt damit, daß es nicht auf äußerliche Aktivitäten, auf „triviale Abenteuerhistorien“ ankomme, sondern um ein Leben „ganz und gar nach seiner Natur“ (95), in dem man tut, was man tun, und läßt, was man lassen muß.

Dies kann Stopfkuchen für sich beanspruchen; was als Trägheit und Faulheit vermutet wurde, entpuppt sich als Gelassenheit, die der des indischen Weisen – er bekennt sich hier zu Schopenhauer, dem Frankfurter Buddha, als Erzieher – kaum nachsteht.

Mit diesen in hiesigen Breiten ungewöhnlichen Eigenschaften und Veranlagungen begabt, gelingt es ihm auch, den Mord aufzuklären, der das Dorf seit Jahrzehnten belastet, indem er den Täter sieht. Es ist der Umgang mit diesem Wissen, der besticht. Weit entfernt, sich für die ihm, seiner Frau, seinem Schwiegervater, der mittlerweile gramvoll verstarb, angetane Schmach zu rächen, überläßt er es dem Mörder selbst, einem biederen und allseits beliebten Manne, mit seinem Gewissen ins Reine zu kommen. Der ist dafür zu schwach und nimmt das Geheimnis mit ins Grab. Erst jetzt, nachdem alle beteiligten Personen das Zeitliche gesegnet haben, legt er sein Wissen, und auch dies eher widerwillig, offen, findet er doch keine Antwort auf die Fragen warum?, weswegen?, wofür? und wozu? (186) eine solche Veröffentlichung nun noch dienen könne, und an Moralhülsen, wie etwa die „Gerechtigkeit“, vermag er nicht zu glauben.

Das ist die Souveränität des Weisen, der die Kunst des Schauens vollendet beherrscht.

Und auch wenn dieses Leben an äußeren Ereignissen arm ist, so ist es doch nicht „unsäglich kläglich“, wie Mattenklott behauptete[3]. Vielmehr wird durch den Verzicht auf Welt, durch den Verzicht auf das Er-Fahren der Welt, wie es der Globetrotter als Kontrapunkt symbolisiert, ein innerer Kosmos eröffnet, dessen Reichtümer erst dadurch freigelegt werden können.

Nicht nur hat dieser Mensch tiefer geschaut und mehr begriffen als die meisten anderen seiner Artgenossen, sondern ist er auch glücklich, oder wenigstens zufrieden mit diesem Leben. Nichts, was da zu beklagen wäre.

Insbesondere die Romantik hat gezeigt – und in diesem weiten Sinne zählt nicht nur der Taugenichts dazu, sondern auch Raabes Stopfkuchen und selbst noch Oblomow –, daß die Sehnsucht – eine Bewegungsmetapher, die Krankheit, Leid und Schmerz ausdrückt[4] –, die sich in der Wanderschaft äußert, auch eine destruktive Komponente hat, insofern sie die Gefahr der Unendlichkeit, Unbeendbarkeit des Wanderns inhärent, meist unausgesprochen aufweist. Diese oszilliert zwischen den Polen des Angekommen- und Unterwegsseins und unterteilt sich seinerseits in einen geistigen und physischen Bereich.

Der moderne Durchschnittsmensch nun krankt daran, sich geistig angekommen zu wähnen, geistig faul zu sein. Er kompensiert dies durch ein permanentes physisches Unterwegssein, das als geistloses destruktiv wirkt[5].

Die Wanderung des Taugenichts war noch Allegorie, die des Raabeschen Erzählers ist es nicht mehr. Es käme darauf an, geistiges Unterwegssein an physisches Angekommensein zu koppeln. Damit wäre die Permanenz des Ziels, das das geistige Vagabundieren als Ort nicht erreicht, trotzdem gerechtfertigt, denn das Unterwegssein selbst ist das Ziel und dessen Infragestellung. Stopfkuchen jedenfalls hat’s geschafft.

Oder nehmen wir Knut Hamsun[6]. Man greife sich ein beliebiges Romanwerk des Nobelpreisträgers von 1920 heraus und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eines in Händen halten, das nicht nur den Menschen mit seinen Abgründen, aber auch Gipfeln offenbart, sondern darüber belehrt, jenseits jeglicher Didaktik, wie ein Leben im Einklang mit der Natur, der eigenen und äußeren, möglich war oder sein sollte und wie es aus dem Gleichgewicht geriet.

Leider hat die Diskussion um Knut Hamsun unter seinem Engagement für den Nationalsozialismus gelitten, weswegen die Lektüre seiner großen Bücher oft von Vorurteilen belastet wird. Wohl ist selten von Müßiggängern im obigen Sinne die Rede, aber fast immer von Zeithabern. „Diese Leute waren fleißig auf ihre Art, ohne sich zu hetzen“, schreibt er, um kein Werk herauszuheben, irgendwo.

Man muß dabei wissen, daß es sich um einen Arbeitsbegriff handelt, den die europäischen Industriemächte schon vor 200 Jahren verloren haben und der heute kaum noch verstanden wird. Leben und Arbeit galten einst und gelten bei Hamsuns „positiven“ Helden als untrennbare Einheit. Arbeit diente als Lebensunterhalt, war Erfüllung, war Sinn des Lebens, demzufolge moralisch hochgeachtet.

Mit der Arbeit, die nicht mehr unmittelbar für das arbeitende Subjekt geleistet wird, mit der Lohnarbeit, der Fabrikarbeit kam es zur Trennung von Arbeit – die gleichzeitig Pflicht- und Leidcharakter gewann – und Leben in der Freizeit, einer Kategorie, die dem vorindustriellen Menschen, und das sind die meisten Typen Hamsuns, undenkbar gewesen war.

Sie, die Figuren Hamsuns, bestechen durch ihre Bedeutungslosigkeit, sie sind diesseits von Gut und Böse. An ihnen läßt sich wenigstens lernen, daß die ewige Suche nach den Motiven menschlicher Taten das eigentliche Problem verfehlt, da sie, die Menschen und die Taten, meist grundlos, unergründlich sind. Die Lernarbeit des Lesers wird auf ein denkbares Minimum zurückgeschraubt, die die Beschreibung des nur Notwendigen erheischt. Wenig Wissen wird da vermittelt, aber viel ist zu fühlen, zu spüren, zu sehen, man nimmt daraus nichts mit, kein Wissen, kaum Erkenntnisse, nur Ruhe, Weite, Stille, nichts bleibt, aber vieles ist.

Hamsun wagt den besagten Blick in die Abgründe und auf die Höhen der menschlichen Seele, und gerade weil dies denkbar unspektakulär geschieht, läßt es schaudern und erheben. Ohne in einen didaktischen Ton zu verfallen, läßt er die vielfältigsten Facetten menschlichen Lebens aufblitzen, geborgen in einer überaus einfachen bäuerlichen Welt und stellt damit unausgesprochen die Frage „wozu?“.

Wozu all diese Aufgeblähtheit, die materielle und institutionelle Zusammenballung, die damit zusammenhängende psychische Belastung dienen solle, wenn sie die schicksalhaften Möglichkeiten des irdischen Seins um keine einzige Variante wirklich bereichern könne?

Dabei übersieht er keineswegs die objektiv gegebene destruktive Kraft menschlicher Arbeit, selbst dann, wenn sie sich auf bäuerlichem, naturnahem Niveau bewegt, bietet aber immer wieder Beispiele, in denen das Engagement tragisch endet.

Hamsuns literarische Helden sind schlicht und einfach menschlich, gerade weil sie vom humanistischen Pathos nicht aufgebläht sind, politischen, demokratischen Idealismus durch pure Alltäglichkeit unterlaufen und pädagogische, moralische Bestrebungen, ihres abstrakten lebensfernen Charakters wegen, nicht realisieren. Immer handelt es sich bei dabei um Menschen aus Fleisch und Blut, deren Zeichnung dem Vorwurf der Idealisierung nicht ernstlich vorzuhalten ist. Gerade das macht, bei aller tendenziellen Mystifikation, die sich eher sprachlich als inhaltlich manifestiert, den hohen Realgehalt, seine Einmaligkeit aus.

Seine Kritik der Moderne ist immer kritische Kritik und trotz dieser Klimax ein Plädoyer auch für intellektuelle Abrüstung. „Ein wenig und langsam Denken“ als Ideal der kognitiven Autarkie muß nicht, kann aber heißen, „sich zum Bauern zurückzustudieren“.

„Was werden die, die nichts werden?“, lautet denn konsequent eine Hauptfrage seines Werkes, wozu bringen es die, die es zu nichts gebracht haben? Im günstigsten Fall zu einem von innerer Ruhe getragenen erfüllten Leben. Man kann einen Roman Hamsuns nicht durchlesen, ohne kontemplativ geläutert aus ihm hervorzugehen, ohne von der Ruhe und Bedächtigkeit, ja Langsamkeit wenigstens für Momente infiziert zu werden, und das macht in unserem Kontext deren Bedeutung aus, die Verführung zum Innehalten und zum meditativen Selberdenken.

Die inzwischen zur Mode gewordene Entdeckung der Langsamkeit, der sich bis dato selbst Bestsellerautoren anschlossen, ist so neu also nicht, ebenso wie die Logik der Kapitalexpansion und die Psychologik des Unternehmers hier schon ihre kongeniale Beschreibung fanden. Hamsuns Helden praktizieren, nicht selten in Anlehnung an stoische Traditionen, ein schwaches Denken, das Hindernisse, statt sie zu beseitigen oder gar zu bewältigen, zu umgehen weiß, ein Denken, das selbst im Schreiben ihres Schöpfers noch greifbar ist. Ein Lob der Faulheit von der anderen Seite der Vernunft.

Einen ganz anders gearteten Text, der bedauerlicherweise weitestgehend aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden ist und der keineswegs nur von der persönlichen Konstellation lebt, wenngleich diese einer gewissen Delikatesse nicht entbehrt, stammt von Paul Lafargue, einem Schwiegersohn von Karl Marx. In seiner satirischen Schrift zur „Widerlegung des ‚Rechts auf Arbeit’„[7] sang er das Hohelied der Faulheit, was, wie man insbesondere in der postkommunistischen Ära immer wieder und aus den verschiedensten Ecken zu hören bekommt, dem marxistischen Furor der Arbeit kaum gerecht werden dürfte.

In der Tat macht Lafargue, der sich im pantagruelischen und diderotschen Erbe wähnt, auf ein eigenartiges Paradox aufmerksam, welches bis heute nicht Allgemeingut wurde, auf eine „seltsame Sucht“, die Arbeitssucht des Proleten, der damit offene Türen – die des Kapitals in den Arbeitszwingburgen – einrennt. Eine unheimliche Allianz, wie Lafargue findet, von höchster Aktualität, auch wenn manches Spezifikum von der Zeit eingeholt wurde.

In erweiterter und modifizierter Form lebt sie allerdings noch immer: Unternehmerverbände und Gewerkschaften, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Politiker und Bürgerrechtler, Schwarze, Rote und sogar Grüne … alle fordern Arbeit, Mehrarbeit und mehr Arbeit, als sei dies das Allheilmittel gegen sämtliche katastrophischen Zustände, die letztlich doch nichts anderes als Arbeitsergebnisse sind. Nur noch über das Wie streiten die rhetorischen Gegner, längst nicht mehr über das Ob.

Mit den Arbeitern, den eigentlichen Adressaten seiner programmatischen Schrift, geht Lafargue hart ins Gericht; sie seien verdummt, verzwergt und entartet; bitterböse wirkt mitunter seine gallige Satire, ohne eines gesunden homöopathischen Humors verlustig zu gehen. Zweifellos kynisch inspiriert[8] und mit der Fertigkeit begabt, die zynische Nadel am rechten Ort zu punktieren, zieht er über die Kapitalzynismen her, freilich ohne den analytischen Scharfsinn seines Schwiegervaters zu erreichen. Deshalb kann man sich auf das psychische Element des Pamphlets konzentrieren, in dem der Versuch, Marx von den Füßen auf den Kopf zu stellen, oder vom Ende an den Anfang zu führen, auszumachen ist.

Insbesondere Marxens frühe Werke, die „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte“, die „Deutsche Ideologie“, gehen damit partiell konform, und der alte Marx lobte wenige Wochen vor seinem Tode „den Humor, die Keckheit, Solidität, die Munterkeit“ der Polemik seines Schwiegersohnes (MEW 35, 407)[9]. Jener argumentiert nicht nur ökonomisch, sondern auch, noch immer im Marxschen Sinne, historisch, insbesondere jedoch anthropologisch. Da werden die alten Meister beschworen, die heidnischen Dichter ebenso wie die heiligen Schriften, Vergil und Aristoteles zitiert, an Jehovas Ruhe des siebenten Tages und Jesu Bergpredigt erinnert.

Vor allem wird der Verlust der Instinkte beim Proletariat beklagt, das „seinen historischen Beruf verkennend“, der darin besteht, „aus dem menschlichen Tier ein freies Wesen“ zu machen, sich vom „Dogma der Arbeit verführen läßt“ (12f.). Dieses aber ist, leidenschaftlich verfochten, Grund und Ursache alles individuellen und sozialen Elends. Erkennend und sich davon lösend, „muß das Proletariat die Vorurteile der christlichen, ökonomischen und liberalistischen Moral überwinden; es muß zu seinen natürlichen Instinkten zurückkehren, muß die Faulheitsrechte ausrufen, die tausendfach edler und heiliger sind als die schwindsüchtigen Menschenrechte“ (25).

Derartige Parolen gingen dem in Kuba geborenen, mit dem karibischen Virus des dolce far niente infizierten Halbkreolen Lafargue, der das Leben bei „den glücklichen Völkern, die sich noch Zigaretten rauchend in der Sonne räkeln“ aus eigener Erfahrung kannte und wohl auch im Blute spürte, für westeuropäische Verhältnisse verdammt leicht von den Lippen. Kein Wunder, daß auch er sich von der mediterranen Lebensart angesprochen fühlte.

Wenige nur, die es wagten ähnliche Gedanken auszusprechen, etwa die Forderung, „nicht mehr als drei Stunden täglich zu arbeiten“. Für den Kenner keineswegs überraschend, ist es Nietzsche, gleichfalls ein Südmensch, der in „Menschliches, Allzumenschliches“ sich zu ähnlich apodiktischen Äußerungen genötigt sah: „Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter Gelehrter“ (KSA 2, 231f.)[10].

Dabei kommt es selbstredend nicht auf die Zahl an, ob ein, drei, fünf oder zehn Stunden täglicher Arbeit liegt im jeweiligen Ermessen ebenso wie die Beinhaltung des Begriffes von Arbeit und der für das körperlich und geistige Wohlbefinden notwendigen Arbeitsleistung, vielmehr ist die Absurdität des Gedankens, Arbeit mache frei oder gar den Menschen aus, aufzuzeigen.

Lafargue verstand Arbeit wohl in erster Linie als körperliche, auf jeden Fall aber als jenen Teil der Tätigkeit, der über die Grenzen des Wohlbefindens hinaus geleistet wird und deren Notwendigkeit zur Reproduzierung der Lebensmittel, im weitesten Sinne, nicht nachzuweisen ist. Die notwendige Arbeit müsse auf ein Minimum reduziert werden. Was darüber sei, ist so sehr vom Übel, daß er selbst ein Verbot der Arbeit – zum Glück zwingen? – für statthaft hielt (43). Man könne sie leisten, um von der Faulheit auszuruhen, sie ist, so gefaßt, Bereicherung und Abwechslung, Mittel nicht Zweck. Statt unentwegt riesige Mengen von (oft überflüssigen, sinnlosen und perversen) Konsumgütern zu produzieren, müsse der Arbeiter lernen, diese auch zu verbrauchen, denn tut er dies nicht, so ist zum einen der Unternehmer als Überkonsument dazu verurteilt, den Rahm abzuschöpfen, zum anderen, sich neue Märkte zu erschließen: „Millionen von schwarzen Hintern, nackt wie Bismarcks Schädel, harren des europäischen Kattuns, um den Anstand zu erlernen, harren der Schnapsflaschen und Bibeln, um die Tugenden der Zivilisation kennenzulernen“ (35).

Aber nicht den Lohn der Arbeit fordert, nein erfleht das Proletariat ein, sondern die Arbeit selbst. In dieser Engstirnigkeit macht Lafargue das eigene Verschulden der Arbeitstiere aus.

Unschwer ist in derartigen Äußerungen das bereits von Marx aufgespürte Phänomen des Kapitalexportes auszumachen, das heutzutage gern als Entwicklungshilfe bezeichnet wird. Fundierte Einblicke, leichtverdaulich präsentiert, in die Expansionslogik des Kapitals und dessen geistesgeschichtliche Wurzeln, die, wie Benz nachweist, Webers „Protestantische Ethik“ partiell antizipieren, gesellen sich antiquiert wirkende Technikgläubigkeit und Illusionismus bei.

Vor allem aber ist es das eschatologische Element, welches nicht zuletzt Ernst Benz, seines Zeichens evangelischer Theologe, in die Augen fiel, das aber, man weiß das spätestens seit Löwith, im Marxismus selbst wurzelt.[11]Paradise now“ könnte man plakativ das Programm beschreiben. Was die Endzeiterwartung betrifft, bleibt Lafargue Marxist, in der Frage des Zeitpunktes aber hätte man ihn als Revisionisten bezeichnet, denn immerhin unterläuft es die vor allem von Lenin entwickelte, von Stalin dann dogmatisierte Revolutionslehre; in der Frage nach Ort und Zeit geht er hinter Marx zurück und entschärft damit die marxistische Bombe, die an die Welt gelegt war, indem er deren Zündschnur, den Fortschritt, abreißt.

Der Marxsche Kommunismus hatte von Anfang an mit dem selben Problem zu kämpfen, das schon das Christentum seit fast zwei Jahrtausenden belastete und zur permanenten Säkularisierung nicht unwesentlich beitrug: die Parusieverzögerung. Immer wieder werden die Hoffnungen auf einen baldigen revolutionären gesellschaftlichen Wandel enttäuscht. Die historisch relevanten und entscheidenden Situationen, die 48/49er Revolution, die diversen ökonomischen Krisen[12], die Pariser Kommune, später der Weltkrieg, an dessen Ende die Kronen der Macht auf den Straßen rollen sollten und die man nur noch aufzuheben brauche, schließlich die Novemberereignisse 1918 erwiesen sich immer als noch nicht geeignet. Für Marx blieb schließlich noch der Glaube an Rußland, schon jenseits der eigenen Lebenserwartung. Wie der Messias auf sich warten ließ, so wollte oder konnte auch das Proletariat seine „historische Mission“ offensichtlich nicht allzu eilig erfüllen.

Bei Lafargue zeigt sich allerdings, daß von einer Utopie im originären Sinne gar nicht gesprochen werden kann, es sei denn in Form eines Oxymorons, als Realutopie, die hier und jetzt sich verwirklichen könne. Noch heute werden Verfechter dieses Ansatzes entweder eingekerkert[13] oder in Akademikerkreisen einer liberaleren Gesellschaft verlacht[14].

Gemeinsam ist beiden Denkern auch der gesellschaftsformationsübergreifende Aspekt, denn obwohl Lafargue die kapitalistische Gesellschaft benennt, geht es um das Phänomen der Arbeit, unabhängig ihrer sozietären Einbindung.

Lassen wir noch einmal Ernst Benz, dessen theoretischer Seitensprung diese kleine, aber fulminante Schrift in Erinnerung brachte, zu Wort kommen: „Der Zustand der Arbeitslosigkeit gewinnt von der Philosophie der Faulheit her eine positive Bedeutung als ein Übergang von einem Zustand pathologischer Arbeitswut zu einem Zustand der Erholung und der Teilhabe am Konsum der produzierten Güter“ (33).

In den Ohren des westfälischen Kohlekumpels, des vorpommerschen Werftarbeiters oder des mecklenburgischen Bauern mag das wie blanker Hohn klingen, nicht minder als André Gorz‚ provozierender Titel eines Aufsatzes, dem wir uns abschließend widmen, den er in seinem, nicht nur bei der Linken Frankreichs stark diskutierten Buch „Abschied vom Proletariat“ von 1980 veröffentlichte und der „Das Goldene Zeitalter der Arbeitslosigkeit“ thematisiert.

Das erscheint in der Tat wie ein bewußter Affront, hat es sich doch in den Hirnen festgesetzt, als sei es einzig die Arbeit, die Leben ließe. Der Volksmund hat dies im Sprichwort, „Jeder ist seines Glückes Schmied“ festgehalten, in dem die Arbeitsmetapher unübersehbar enthalten ist. Aber es verweist auch auf das Anstrengende des Glückes. Das mittelhochdeutsche „arebeit“ bedeutet „Not“ und „Mühsal“, im Französischen läßt sich die Arbeit, „travail“ etymologisch auf „tripalium“, einem Folterinstrument zurückführen, worin der eigentliche Gehalt der Arbeit, die Qual, das Martyrium, noch durchscheint. Und nicht umsonst fungiert die Arbeit, z.B. im Gefängnis, als Strafe, Züchtigung, moralisches Läuterungsmittel und Resozialisierungsmaßnahme.

Nun, egal wie man darüber denkt, so gehört es einfach zum trockenen Befund, daß der technische Fortschritt, die Automation, die Computertechnik etc., effektiv keine Arbeitsplätze mehr schafft. Davon geht Gorz aus und konstatiert daraus eine Epochenschwelle, nach der die menschliche Arbeit nicht mehr, wie Engels einst an prominenter Stelle festschrieb, die Quelle allen Reichtums sei. Dabei gibt es auch kein eigentliches Produktionsproblem mehr, dessen Stellenwert durch das nun dominante Problem der Distribution verdrängt wird. Dies aber dürfe nicht bekannt werden, weshalb „man“ (!) die Arbeitsverknappungslegende verbreitet, die nicht aussagt, daß die Bevölkerung „nicht mehr so viel zu arbeiten braucht, sondern daß ‚die Arbeit knapp wird‘, man sagt ihr nicht, daß wir immer mehr Freizeit haben werden, sondern daß es ‚weniger Arbeitsplätze geben wird’„ (129). Nur so könne der Sturm auf die Arbeitsämter, die „industrielle Reservearmee“, wie Marx die Arbeitslosen nannte und die er als konstitutiven Stabilitätsfaktor der kapitalistischen Gesellschaft ausmachte, garantiert werden.

„Wir sind“, lautet der von Gorz diagnostizierte Befund, „an dem Punkt angelangt, an dem es im offiziellen Sprachgebrauch nicht mehr heißt, die Arbeit schafft Produkte, sondern die Produktion schafft Arbeit. Man arbeitet nicht mehr, um zu produzieren, sondern man produziert, um zu arbeiten“ (130).

Würde eine solche Einsicht ins gesellschaftliche Bewußtsein einsickern, so wäre das Ziel, „Arbeit und Leben zu versöhnen“ (139), durchaus erreichbar, denn die materielle Basis ist längst gelegt. Und schließlich, „wären nicht alle besser dran, wenn jeder nicht mehr Geld, sondern mehr Zeit hätte, um sich mehr um sein eigenes Leben und das der Gemeinschaft und seiner Kommune kümmern zu können? Wir würden weniger Arbeit tun, die uns gleichgültig oder lästig ist, und mehr Arbeit, die uns anregt, in der wir uns ausdrücken und entfalten können. Wir könnten jene ‚allseitig entwickelten‘ Individuen werden, die laut Marx in der kommunistischen Gesellschaft leben werden, in der das ‚wirkliche Maß des Reichtums‘ die Zeit sein wird, die jedem für freigewählte Betätigungen zur Verfügung steht. Nicht leere Muße- und Ruhestandszeit, sondern freie Zeit für ein anderwertig aktives Leben. Nicht einfach Arbeitslosigkeit, sondern ’schöpferische Arbeitslosigkeit'“[15] (131).

Diese als Abschluß gedachte Frage impliziert jedoch noch mindestens zwei weitere. Zum einen, die nach dem Träger dieser fundamentalen Wandlung. Kann hier noch in Klassenkampfkategorien gedacht werden, in politischen gar? Handelt es sich noch um klassenspezifische Prozesse, und sind Parteien, Organisationen, Bewegungen befugt, ermächtigt, willens und in der Lage, einen derartigen Wandel zu initiieren und zu leiten, oder muß die Entscheidung eine jeweils individuelle sein, mit all ihren Varianten, ihrer gesamten pluralen Konsequenz?

Und zweitens, diese Frage stellt sich Gorz, „führt die dritte industrielle Revolution in die Gesellschaft der Arbeitslosigkeit oder in die Gesellschaft der Freizeit? Wird sie den Menschen von verkrüppelnder Arbeit befreien oder wird sie ihn noch mehr verkrüppeln, indem sie ihn zu erzwungener Untätigkeit verdammt? Wird sie ein neues Goldenes Zeitalter bringen, in dem wir immer weniger arbeiten und dennoch über immer mehr Reichtum verfügen, oder wird sie die einen zu Arbeitslosigkeit, die anderen zu Überproduktivität verurteilen?“ (126).

Darin läßt sich, wie man sich erinnern wird, die aristotelische Ausgangsfrage nach dem Stoff, mit dem die Zeit der Muße auszufüllen sei, wiedererkennen, mit der alles begann und endet, an der sich alles entscheidet.

[1] Teil 3 der „Trilogie der Faulheit“
[2] Teil 2 der „Trilogie der Faulheit“
[3] Mattenklott, Gert: Blindgänger. Physiognomische Essais. Frankfurt 1986
[4] „Die Sehnsucht ist der Schmerz der Nähe des Fernen“ (Heidegger: Zarathustra 104).
[5] Siehe „Dekadenzgedöns
[6] Siehe „Übersetzen nach Hamsun“ und „Segen der Erde
[7] …und den thematisch umliegenden, wie etwa dem satirischen „Katechismus des Arbeiters“, in dem die Religion des Kapitals entworfen wird, die ihm vor allem zwei Pflichten auferlegt: die der Arbeit und der Entsagung.
[8] Siehe: „Was ist Kynismus“
[9] Wobei allerdings, entgegen Benz, nicht wirklich gesichert ist, ob Marx tatsächlich vom „Recht auf Faulheit“ sprach (vgl. Benz: Das Recht auf Faulheit oder Die friedliche Beendigung des Klassenkampfes, S. 111).
[10] Bekanntlich führen Begriffe wie „Übermensch“, „blonde Bestie“ oder „Sklave“ noch heute zu fundamentalen Mißverständnissen des Nietzscheschen Denkens (vgl. explizit Wolfgang Harich: Nietzsche und seine Brüder. Eine Streitschrift). Die Affirmation sollte daher nicht nur von dessen Denken ausgehen, sondern es selbst betreffen; dann ist man in die Lage versetzt, Nietzsche wie Deleuze zu lesen: „Nietzsche heißt schwach oder Sklave nicht den weniger Starken, sondern den, der, welche Kraft er auch immer haben mag, von dem getrennt ist, was er kann“ (Nietzsche und die Philosophie, S.68).
[11] Benz sah darin gar „die eigentliche geistesgeschichtliche Bedeutung Lafargues, … daß er den Marxismus von seinem krampfhaften und schon seinem Begründer Karl Marx nie ganz gelungenen Bemühen, sich als ‚Wissenschaft‘ zu deklarieren, befreit und ihn in das zurück übersetzt, was er im Grunde immer war, aber niemals zugegeben hat zu sein, nämlich eine Heilslehre. Lafargue hat ganz konsequent den ‚wissenschaftlichen‘ Sozialismus von Karl Marx auf seine religiöse Wurzel zurückgeführt“ (75).
[12] …an denen sich Marx und Engels so ausgiebig delektieren konnten (vgl. den frühen Briefwechsel, vor allem MEW 28/29).
[13] Wie Rudolf Bahro etwa nach seiner „Alternative“, die nichts anderes ist als eine dezidierte marxistische Auslegung dieses Grundgedankens.
[14] Dieses Schicksal ereilte Bahro nach seinem fundamentalökologischen Hauptwerk „Die Logik der Rettung“.
[15] In diesen Zusammenhang gehört auch die berühmte und umstrittene Passage aus der „Deutschen Ideologie“, die man im Gesamtkontext lesen muß: „Ferner ist mit der Teilung der Arbeit zugleich der Widerspruch zwischen dem Interesse des einzelnen Individuums oder der einzelnen Familie und dem gemeinschaftlichen Interesse aller Individuen, die miteinander verkehren, gegeben; und zwar existiert dies gemeinschaftliche Interesse nicht bloß in der Vorstellung, als „Allgemeines“, sondern zuerst in der Wirklichkeit als gegenseitige Abhängigkeit der Individuen, unter denen die Arbeit geteilt ist. Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden. Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, und eben aus diesem Widerspruch des besondern und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit, aber stets auf der realen Basis der in jedem Familien- und Stamm-Konglomerat vorhandenen Bänder, wie Fleisch und Blut, Sprache, Teilung der Arbeit im größeren Maßstabe und sonstigen Interessen – und besonders, wie wir später entwickeln werden, der durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen, die in jedem derartigen Menschenhaufen sich absondern und von denen eine alle andern beherrscht. Hieraus folgt, daß alle Kämpfe innerhalb des Staats, der Kampf zwischen Demokratie, Aristokratie und Monarchie, der Kampf um das Wahlrecht etc. etc., nichts als die illusorischen Formen sind, in denen die wirklichen Kämpfe der verschiednen Klassen untereinander geführt werden (wovon die deutschen Theoretiker nicht eine Silbe ahnen …“ (MEW, S. 32f.)

 

Literatur:
Bahro, Rudolf:
• Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Berlin 1990
• Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten?. Berlin 1990
Benz, Ernst: Das Recht auf Faulheit oder Die friedliche Beendigung des Klassenkampfes. Frankfurt/Berlin/ Wien 1983
Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie. Hamburg 1991
Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts: in: Gesammelte Werke Bd. 3, Berlin 1962
Gorz, André: Abschied vom Proletariat. Frankfurt 1988
Hamsun, Knut: Sämtliche Romane
Harich, Wolfgang: Nietzsche und seine Brüder. Eine Streitschrift. Schwedt 1994
Heidegger, Martin: Wer ist Nietzsches Zarathustra? in: Vorträge und Aufsätze. Stuttgart 1994
Lafargue, Paul:
• Das Recht auf Faulheit. Widerlegung des „Rechtes auf Arbeit“ von 1848. in: Das Recht auf Faulheit und andere Satiren. Berlin 1991
• Die Religion des Kapitals. in: Das Recht auf Faulheit. Berlin 1991
• Ein verkaufter Appetit. in: Das Recht auf Faulheit. Berlin 1991
Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart 1990
Lukács, Georg: Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts, Berlin 1951
Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. in: Gesammelte Werke Bd. 12, Frankfurt 1990
Mattenklott, Gert: Blindgänger. Physiognomische Essais. Frankfurt 1986
Murger, Henri: Die Boheme. Szenen aus dem Pariser Künstlerleben, Leipzig 1927
Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe (KSA), München 1988
Raabe, Wilhelm: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte. Berlin-Grunewald o.J. Verlagsanstalt Klemm
Schlegel, Friedrich: Lucinde. München 1985
sowie: Bell, Clive: Civilization. London 1928

Lob der Faulheit PDF

siehe auch: Für ein neues Oblomowtum

12 Gedanken zu “Lob der Faulheit

  1. Stefanie schreibt:

    Eine wirklich sehr umfassende Betrachtung der Faulheit bzw. des inneren Zwangs etwas zu tun. Zuviel um ad hoc darauf einzugehen. Allerdings hatte auch ich mir in der Zwischenzeit schon ein paar Gedanken über die Genese des Laubbläsers gemacht und möchte deshalb diese These zum Ursprung der Faulheit in den Raum stellen:

    Faulheit als Tugend der Raubtiere

    Ein Raubtier hat nur sporadisch Jagdglück, dann steht ihm aber sehr reichlich hochqualitatives Futter zur Verfügung, also Gehirnnahrung in Form von Protein und Fett. In der Zwischenzeit harrt es im Müßiggang aus, bis es Zeit für die nächste Jagd wird, um Energie zu sparen. Es schläft und träumt viel und dies wiederum erlaubt es zu von schnellen ungewohnten Bewegungen und kleinen Verletzungen zu regenerieren und geistige Erfahrungen so zu verarbeiten, daß ein Lernprozess möglich ist (z.B. Bei der Jagdtechnik).*
    Dagegen ist ein Pflanzenfresser fast durchgängig mit der Nahrungsaufnahme und dem Verdauungsvorgang beschäftigt (im besonderen die Wiederkäuer). Pflanzliche Nahrung ist mit stetigem Arbeitsinput verbunden, steht aber normalerweise in ausreichendem Maße zur Verfügung. Dabei greift die Logik: mehr Arbeit = mehr Kalorienzufuhr. Daraus ergibt sich eine permanente Aktivität, verbunden mit Wachsamkeit gegenüber den Raubtieren. (Giraffen schlafen nur 4h täglich. Ausnahmen von der Regel: Faultiere und Koalas, die sich im Baum vor möglichen Jägern verstecken und wegen geringwertiger Blätterkost auf Energiesparen spezialisiert sind.)

    Der Mensch ist mindestens teilweise auf eine carnivore Lebensweise angewiesen. Sein Verdauungstrakt reicht nicht aus, um aus in der Wildnis vorhandenen, eßbaren Pflanzen, genügend Fett und Protein für sein aufwendiges Denkorgan herauszuziehen. Ein entsprechendes Verdauungssystem, um entsprechende, abundant vorhandene Biomasse (z.B. Gras oder Laub) verwerten zu können, würde wahrscheinlich schon den aufrechten Gang verunmöglichen. Ein größerer Kiefer, um z.B. Getreidekörner, Gras und Wurzeln im großen Stil zerkauen zu können, bräuchte stärke Schädelknochen, die sich wiederum mit einem größeren Gehirn in die Quere kommen könnten. Tatsächlich gab es bei den frühen Hominiden oft eine robustere, pflanzenfressende und eine grazilere, jagende Subspezies. Doch auch ein geborenes Raubtier ist der Mensch nicht: er muß Speere, Pfeil und Bogen und eine auf Sprache basierende Koordination entwickeln, um den „echten“ Raubtieren Konkurrenz machen zu können.

    Weil verschiedene evolutionäre Pfade miteinander in Konflikt stehen, „sourcest“ er sein Verdauungssystem schließlich gewissermaßen „out“, um entweder selektiv gehaltvollerer Pflanzennahrung anzubauen (Getreide, Hülsenfrüchte, Ölfrüchte, stärkehaltige Knollen wie Kartoffeln, Yams, Maniok) oder er hält Tiere, die reichlich verfügbares Grünzeug in eine leichtverwertbare Form bringen (Milch, Eier, Fleisch, Speck)**. Nebenbei gewinnt er dadurch noch die Arbeitskraft der Tiere (Pferd, Ochse, Wasserbüffel).
    Er verlagert aber damit nicht nur einen Teil seiner Körperfunktionen in eine äußere Umwelt, sondern schafft damit auch die Möglichkeit die Evolution dieses „äußeren Verdauungssystems“ beherrschen zu können: durch planmäßige Züchtung.
    Dieses „Outsourcen“ beschränkt sich nicht nur auf die Dienstbarmachung von Nutzpflanzen und Haustieren. Er kann auch seine Körperlichen Fähigkeiten und Körperkräfte planmäßig in diesem Außenbereich vorantreiben, indem er Werkzeuge erschafft (z.B. Grabstock, Sense, Pflug, Mähdrescher, Laubbläser), die ihm eine deutlich schnellere und vor allem bewusstere Weiterentwicklung und die Nutzung anderer Energiequellen gestatten, als es evolutionär möglich wäre. So kann er durch Zerkleinern und Mahlen den Kauvorgang nach außen legen. Durch das Feuer die Energie von Holz, Torf, Kohle, Erdgas nutzen, um seine Nahrung physikalisch und chemisch durch Kochen verändern zu können. Und diese Techniken kann er dann wieder auch in anderen Bereichen anwenden (z.B.Hausbau, Krieg, Mobilität).
    Im geistigen Bereich wäre es die Schrift und davor schon die Lautsprache, die es ermöglicht abstrakte Konzepte (Meme) außerhalb des Gehirns aufzubewahren, so daß diese nicht mit dem Träger der Gedanken untergehen und auch anderen zum Weiterdenken und Weiterverbreiten zugänglich werden.
    Man trieb die menschliche Entwicklung also im Raum des Überbaus und des Gestells voran. Der Mensch ist also in gewissen Sinne ständig außerhalb seiner selbst, nie ganz bei sich und hält es daher auch nur schlecht mit sich selber aus: Tatendurst uns Langeweile zerreißen ihn, wenn er untätig ist. Und das eben schon seit Anbeginn seiner Entwicklung, nicht erst seit der Industrialisierung oder dem Ackerbau – aber natürlich in exponentiell wachsender Form..

    Der manische Arbeitstrieb und die Technikfixierung rühren daher möglicherweise aus der Notwendigkeit heraus, sich regelmäßig verfügbare, pflanzliche oder auf pflanzlicher Nahrung basierender, Nahrungsquellen erschließen zu müßen, denen man sich auf evolutionärem Weg nicht anpassen konnte, ohne andere Eigenschaften wie den aufrechten Gang, damit die Nutzung von Werkzeugen und ein leistungsfähiges Gehirn einzubüßen. Tatsächlich war der Übergang zur Landwirtschaft von Einbußen bei Körpergröße und Gesundheit begleitet. Die Neolithiker mußten ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts erarbeiten, im Gegensatz zu den Wildbeutern des Goldenen Zeitalters, denen Gott, wie den Vögeln auf den Feldern alles zur Verfügung stellte, was sie brauchten- und die daher tatsächlich nur wenige Stunden täglich für das Lebensnotwendige arbeiten mußten*** . Allerdings brachte die gesellschaftlich Differenzierung wieder neue Klassen von Müßiggängern hervor, die durch ihre Denkarbeit wiederum Maschinen und Geräte ersonnen, die der arbeitenden Bevölkerung das Leben (vorläufig) wieder etwas leichter zu machten.
    Ironischerweise ist es gerade der Wunsch weniger Arbeit mit etwas zu haben, der die Innovation immer effizienterer Methoden und Maschinen vorantreibt und damit Raum bzw. Zeit schafft neue Dinge zu ersinnen, um diese Zeit auszufüllen. Durch Waschmaschine, Rasenmäher, Laubbläser soll mehr Freizeit generiert werden, was wiederum zur Überkompensation führt: mehr Rasen, statt Wiese, mehr Kleidung, die öfter gewechselt und gewaschen wird. Der Laubbläser? – Nun es gab auch mal Dodos. – Hirschgeweihe und Pfauenräder haben sich allerdings gehalten.
    Im größeren Maßstab konnte man durch die Dampfmaschine mehr Wasser pumpen, um mehr Kohle zu fördern, mit der man mehr Dampfmaschinen antreiben konnte…

    Die (noch?) reichliche Verfügbarkeit fossiler Energiequellen verführt dazu, zu glauben die schwere körperliche Arbeit wäre in Zukunft passee. Deren Nutzung im Zuge der Industrialisierung führte wiederum zu einer Rückkopplung bei der Evolution des Menschen, die ja nicht vor ein paar tausend Jahren einfach aufhörte. (siehe The 10000-Year-Explosion von Gregory Cochran and Henry Harpending). Durch die Maschinen waren nun auch körperlich schwächere Männer, Frauen und Kinder zu mehr produktiver Arbeit fähig. Durch das zerlegen anspruchsvoller Arbeitsprozesse in Einzelschritte, konnten auch weniger gewitzte Leute sehr komplexe Maschinen, Geräte und Konsumgüter herstellen. (Man vergleiche die Arbeit eines Schmiedes mit einem Arbeiter an einer CNC-Fräse bei der Herstellung eines Werkstücks.) Dadurch konnten auch diese weniger Intelligenten und körperlich Kräftigen mehr ihrer Nachkommen großziehen. Vor 100 Jahren nannte man das, wertend, Dysgenik, der man eine Eugenik entgegenstellen wollte. Tatsächlich ist es aber eine evolutionäre Anpassung an die neuen Gegebenheiten, die unter anderen Umständen (bei weniger reichlich vorhandenen Energiequellen) wiederum einen anderen Verlauf nehmen könnte. In dieser Welt könnte das manisch-einen Mehrwert-erzeugen-müssen wieder eine vorteilhafte Einstellung sein. – Mit Nischen für den Müßiggang.

    *siehe Matthew Walker, Why we sleep: zur Wichtigkeit von REM-und N-REM Schlaf bei der Speicherung, Verarbeitung und Synthese von im Wachzustand gesammelter Erfahrungen z.B. Auch beim Sprachenlernen im Kindesalter. Er geht auch auf den Zusammenhang von Schlaflosigkeit und Demenzerkrankungen ein, wobei die Richtung der Korrelation allerdings nicht ganz klar ist. Dem modernen Mensch fehlt zunehmend nicht die Zeit nur zum Müßiggang, sondern schon zum schlafen selbst. – Ironischerweise teilweise dadurch, daß er glaubt vor einem Bildschirm dem Müßigkang zu frönen.
    **Fragen Sie mal einen, sich ethisch begründenden, Ovo-Lakto-Vegetarier, was wohl mit den kleinen Brüdern der Milchkühe und Legehennen passiert. Ein reiner Veganer wiederum wird ohne synthetische Nahrungsergänzungsmittel über kurz oder lang gesundheitliche Probleme kriegen [auch Hefe- oder Algenextrakte brauchen ein technisches Produktionsverfahren – es kann daher keinen „natürliche“ Ernährung sein]).
    ***vgl. Gegenüberstellung von Jäger-und-Sammlerkulturen mit Gartenbaukulturen bei Eibl-Eibesfeld : Menschenforschung auf neuen Wegen

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    • Pérégrinateur schreibt:

      Man erkennt anscheinend den Überhang von der mühseligeren Stampf- zur Mahltechnik bei der Getreideaufbereitung klar daran, dass die Gebisse auf der Stelle grottenschlecht werden. Beim Mahlen mit Steinmühlen geraten nämlich unvermeidlich kleine Steinchen aus dem Mahlstein ins Mehl, die beim Brotbeißen Zähne zerstören. Die von den Naturaposteln gewöhnlich als „unnatürlich“ geschmähte moderne Mühlentechnik, bei der das Mahlgut zwischen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit rotierenden Walzen aus viel stabilerem Metall zerrieben wird, hat also ihre Vorzüge.

      Eine weitere Verbesserung bei der Nahrungsverbesserung, die allenfalls ein paar Jahrzehnte alt ist, haben die Freunde der Natürlichkeit nicht einmal bemerkt. Die bösen „industriell erzeugten“ Karotten von heute sind nämlich mit Hochdruckreinigern völlig von selbst kleinsten Sandkornanhaftungen gereinigt, während noch in meiner Jugend vom fröhlichen Hineinbeißen eher abzuraten war, und dies ganz besonders bei im eigenen Garten aufgezogenen mit ihren vielen rinnenartigen Einschnürungen, die man etwa im Keller im Sandbett durch den Winter gebracht hatte.

      Es gibt eine wachsende Gattung städtischer „Naturfreunde“, die sich notorisch vor Phantomen fürchtet, aber freudig Elefanten und Tiger streichelt.

      ――――――――

      Fast schon legendär ist auch die Dösigkeit zumindest der in Zoos lebenden Silberrücken. Indem sie nach dem Gewecktwerden schlichtweg den ersten Besten der den Frieden störenden jungen Raufbolde verdreschen, verwirklichen sie mit Nachdruck den Rechtssatz «la legge è uguale per tutti» in ihrer Horde, was übrigens von den Weibchen, mater semper certa est, eher weniger zu erwarten ist. Mithin gewinnt außer der Jagdtechnik auch das Recht durch den müßigen Schlaf, was die Bei…, Bei… – wie war noch gleich diese andere Bezeichnung für Schöffen? – an den Gerichten vor jeder ethologischen Feldforschung schon immer gewusst haben.

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    • Stefanie schreibt:

      Ich trau mich kaum, noch einen Anhang zu bringen, da der Versuch einen Arbeitstext auch für andere verständlich zu formulieren, ziemlich ausgeufert ist. Dennoch, weil ich den Einwand schon kommen sehe:

      Aber Gorillas und andere Menschenaffen schlafen doch noch länger, als Menschen. (Gorillas:10-12 h, ).
      Tatsächlich geht es mir weniger um den Schlaf (da gibt es keine klare Faustregel über die Dauer), als um die Art der Nahrungsbeschaffung: Fleischfresser erlegen sich ihre Beute durch eine sehr schnelle, koordinierte Aktion, für die sie als Jungtiere erst lernen bzw. üben mußten. Zwischen den Jagden liegen mehr oder weniger lange Pausen. Pflanzenfresser dagegen müssen sich kontinuierlich relativ nährstoffarme und schwerverdauliche Kost einverleiben. Ist die Nahrung in einem Lebensraum sehr mager oder schwer verdaulich (z.B.Blätter für Gorillas), liegt der Focus auf dem Energiesparen: man legt sich, versteckt im Baum ein Nest an und schläft ausgiebig.
      Doch ab einem gewissen Punkt reichte Energiesparen alleine nicht mehr aus und unsere Vorfahren mußten sich andere Nahrungsquellen erschließen: Insekten aus dem Bau stochern, Wurzeln ausgraben, Tiere mit einem Stock vom Aas verjagen, Knochen mit einem Faustkeil zerschmettern um ans Mark zu kommen, Feuer zum Kochen, kleine Tiere erlegen usw. Um diese Verfahren zu erlernen, braucht man Zeit für spielerische Muße, besonders im Jugendalter. Der REM- Schlaf kommt ins Spiel, weil darin verschiedene Erfahrungen bzw. Erlebnisse, die man nicht nur am vorherigen Tag, sondern im Leben überhaupt schon hatte, miteinander zu verknüpfen und dadurch mit Glück mit einem Aha-Erlebnis aufzuwachen (Primaten haben ca. 9% REM-Schlaf-Anteil, Menschen 20-25%, kleine Kinder besonders viel). Durch die bessere Nahrung kann ein größeres Gehirn versorgt werden, daß sich wiederum neue Werkzeuge ausdenken kann usw.
      Das Werkzeug, als ausgelagerte Evolution, steht also schon ganz am Anfang der Menschwerdung. Wir waren in unserer Entwicklung durchgängig auf das eine oder andere angewiesen. Ihr Gebrauch bedingte das Überleben auf der jeweiligen Kulturstufe. Dadurch wird es schwierig, eine Grenze zu ziehen, ab der nicht mehr wir das Werkzeug in der Hand hatten, sondern das Werkzeug uns (wie man es bei einem Smartphone oft beobachten kann). Später kamen dann Sprache und Schrift, Ackerbau und Viehzucht, Nutzung von Wasser, Wind, Kohle, Öl, Uran… Doch das sind nur weitere Eskalationsstufen, an die wir uns, wegen der beschleunigten Entwicklung, genetisch und kulturell nur schwer anpassen können.

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    • Das sind spannende Gedanken, die jede Menge Probleme beinhalten. Ich muß es – auch der Zeit wegen – etwas vereinfachen. Wenn ich Sie recht verstehe, dann wollen Sie sagen, daß unser „Raubtieranteil“ uns evolutionär und genetisch (geht das zu weit?) zumindest partiell zur inneren Unruhe und zum Schaffen/Beschaffen verpflichtet?

      Die Bedeutung dieses Anteils halte ich für zu hoch angesetzt, zumindest wenn man sie auf semi-carnivores Dasein zurückführt. Dazu später mehr – vielleicht sogar in der nächsten „Sezession“ … falls nicht dort, dann hier.

      Zum anderen sollte – neben vielen anderen – der Faktor des Klimas nicht unberücksichtigt bleiben. Das sich Abringen des Lebensnotwendigen – das ist eine These – stellt in gemäßigten Zonen andere Anforderungen als in tropischen oder polaren. Es könnte hier eine „goldene Mitte“ vorhanden sein, die ein relatives Gleichgewicht zwischen Kreativität und Entspannung zuläßt, wohingegen das Lebewesen in Regionen, in denen ganzjährig die Früchte in den Mund wachsen kaum stimuliert wird, es andererseits dort, wo alle Energie zum puren Überleben notwendig ist, aus anderen Gründen freie Gedankenflüge erschwert sind.

      Erinnere noch mal an Ihre und unsere Wirklichkeit

      Noch mal zum Laubbläser: die Reihe „z.B. Grabstock, Sense, Pflug, Mähdrescher, Laubbläser“ könnte man auf die Kinderseite in Zeitschriften bringen: Finde die Ausnahme. Nur darum ging es. Und darum, daß die Welt heute zugemüllt ist mit Laubbläsern aller Art.

      Man muß auch Sloterdijk recht geben, wenn er daran erinnert, daß unser ganzes Dasein ohne die unerhörte Einspeisung von erdgeschichtlich begrabener Energie undenkbar wäre und im Übrigen noch längst nicht zur Genüge bedacht wurde – ausgenommen vielleicht der frühe Sieferle.

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      • Pérégrinateur schreibt:

        Schon in Aldous Huxleys in der späten 1920ern erschienenem Ideenroman Point Counter Point spricht einer der Protagonisten (taxonomisch etwas ungenau, wohl damit’s polemischer wird) vom Tropismus der Moderne zum fossilen Aas. Wenn man einen Thomas Henry Huxley zu seinen Ahnen zählen kann, ist man halt auf der Höhe seiner Zeit. (Vermutlich dieser THT hat in Buch einen reichlich lächerlichen Auftritt bei einer Party der coolen und -bescheidwisserischen Jeunesse dorée seiner Zeit und bereitet darin eine Publikation über die unsinnigen Phosphatdüngerverluste durch hinduistische Begräbnissitten vor.)

        Es würde mich nicht wundern, wenn schon die frühen Wirtschaftsliberalen (Adam Smith usw.) sich der Endlichkeit gewisser Ressourcen völlig bewusst waren. Die Vorstellung einer endlosen technischen und wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung war jedenfalls damals noch nicht selbstverständlich. Solche naiven Projektionen kommen wohl erst auf, wenn man falsche induktive Schlüsse aus der mit diesen vereinbaren eigenen Lebenszeiterfahrung ziehen kann. Das allzeit versichernde Bauchgefühl halt; dieses kann man dank der üblichen Unkenntnis des Exponentialgesetzes unschwer entwickeln, vor allem, wenn man seine sämtlichen Kenntnisse aus den „deutenden ‚Wissenschaften‘“ bezieht.

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      • Stefanie schreibt:

        Mir ging es in meinen Ausführungen in erster Linie um das extravagante Gehirn, daß wir nur durch Fleischverzehr so aufrecht erhalten können. Wir mußten uns also zum Carnivoren entwickeln, doch taten wir das nicht evolutionär (Zähnen und Klauen), sondern durch Entwicklung der Technik, die dadurch integraler Bestandteil unserer selbst ist. Dieses carnivore Gehirn, erstrebt dann einen carnivoren Lebensstil: kurze Phasen der Aktivität begleitet von viel Müßiggang, um spielerisch z.B. die Jagdtechnik oder anderes zu üben und dadurch neue kreative Lösungen zu entwickeln.

        Bei der These über den Einfluß des Lebensraums auf die menschlische Entwicklung, sollte man nicht auf die tropische Fülle hereinfallen: diese ist eine optische Täuschung. Tropische Böden sind meist sehr alt, entsprechend verwittert und durch die vielen Regenfälle ausgewaschen. Die Nährstoffe stecken dort fast ausschließlich in der Biospäre. Die Fülle kommt durch die schnellen Zersetzungsprozesse, zustande, bei der verwesendes, gleich wieder in neues Leben umgesetzt wird. Daher die nomadische Brandrodung: sind die Nährstoffe aus der Pflanzenasche verbraucht, lassen die Erträge schnell nach und man zieht weiter.
        Die gemäßigten Breiten haben dagegen sehr junge Böden, die meist erst nach der letzten Eiszeit entstanden: entweder, durch Verwitterung des freigelegten Grundgesteins oder auf Lößablagerungen. Dadurch kann in diesen Gebieten auch die Bevölkerungsdichte größer sein und sich dadurch Städte und Staaten mit inner Differenzierung und Arbeitsteilung bilden. In den Tropen trifft man auf dieses Nährstoffpotential höchstens auf Vulkanasche.
        Zu Anpassungsleistungen, kann es eigentlich nur kommen, wenn die Veränderungen regelmäßig sind, z.B. der alljährliche Winter, an den man sich mit Kleidung, beheizbaren Häusern und Vorratshaltung anpasst. Auch die Nilflut oder der Monsun kommen in schöner Regelmäßigkeit, auf die man sich einstellen kann, wenn man z.B. Einen Kalender entwickelt. Tropische Gegenden haben dagegen einen sehr gleichförmigen Jahresgang, wenn das Klima schwankt, dann in sehr erratischen oder langfristigen Zyklen, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Auch verbreiten sich in der Wärme Seuchen schneller und die Bevölkerung wächst oder schrumpft im Rahmen unverhergesehener Ereignisse.
        Fülle ist wohl eher die freie Kapazität , die das Ökosystem an wildwachsender Vegetation oder Beute, bzw. An Weidegründen und Ertragspotential auf den Feldern bereithält. Sind gerade viele Menschen Seuchen zum Opfer gefallen, bleibt mehr für die Übriggebliebenen. Werden die Lebensbedingungen durch Klimaveränderungen verbessert (z.B.mehr Niederschlag), kommt es zu Bevölkerungswachstum. Sind die Kapazitäten dann ausgeschöpft, kommt eine Dürre oder dezimiert eine Seuche Tiere oder Nutzpflanzen ist es mi der Fülle wieder vorbei.

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        • Zugegeben, das tropische Bild war zu vereinfacht. Ich dachte einerseits an die „glücklichen Völker, die sich noch Zigaretten rauchend in der Sonne räkeln“, von denen Lafargue sprach aber auch an unsere Vorfahren, die den Tag damit verbringen konnten, aus einer immerwährenden Fülle Früchte zu wählen. Es gibt die Theorie, daß die Vertreibung aus dem Paradies den archetypischen Verlust des lebensspendenden Urwaldes verarbeitet.

          Was mich mehr interessiert, ist dieser Zshg. Fleischnahrung und Gehirngröße. Sie sprechen hier im Präsenz – „das extravagante Gehirn, daß wir nur durch Fleischverzehr so aufrecht erhalten können“ -, so als sei der Fleischverzehr noch immer notwendig, um das Hirn zu versorgen. Das wäre heiße Materie.

          Ich denke, man kann zu dieser These vorerst im Präteritum zustimmen – das hatte übrigens schon Friedrich Engels im „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ so angedeutet.

          „Und je mehr der werdende Mensch sich von der Pflanze entfernte, desto mehr erhob er sich auch über das Tier. Wie die Gewöhnung an Pflanzennahrung neben dem Fleisch die wilden Katzen und Hunde zu Dienern des Menschen gemacht, so hat die Angewöhnung an die Fleischnahrung neben der Pflanzenkost wesentlich dazu beigetragen, dem werdenden Menschen Körperkraft und Selbständigkeit zu geben. Am wesentlichsten aber war die Wirkung der Fleischnahrung auf das Gehirn, dem nun die zu seiner Ernährung und Entwicklung nötigen Stoffe weit reichlicher zuflossen als vorher, und das sich daher von Geschlecht zu Geschlecht rascher und vollkommener ausbilden konnte. Mit Verlaub der Herren Vegetarianer, der Mensch ist nicht ohne Fleischnahrung zustande gekommen …“

          Allerdings gibt er der Arbeit die primäre Bedeutung:

          „Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums, sagen die politischen Ökonomen. Sie ist dies – neben der Natur, die ihr den Stoff liefert, den sie in Reichtum verwandelt. Aber sie ist noch unendlich mehr als dies. Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen.“

          Diese, im dialektischen Wechselspiel mit Hand, Gang, Sprache, Soziabilität, Werkzeuge, Abstraktion, Feuer, Kochen etc. führt zur weiteren Ausbildung des Hirns, was wiederum abstrakteres Denken usw. ermöglicht.

          Gibt es aber tatsächlich Beweise für diesen Zshg.? Sowohl in der Entwicklung (Fleisch war notwendig für Hirnentwicklung – physiologisch oder über den Zeitfaktor?) als auch in der Gegenwart? Muß man nicht von einer Korrelation dieser Faktoren ausgehen, in der Fleisch – oder besser die über das Fleisch vermittelten Nährstoffe – eine gewisse Rolle (welche?) zukommt?

          Sehr überzeugend der Gedanke des Zyklischen. Damit dürfte auch das Vorratsdenken zusammenhängen, das ganz sicher ohne entsprechende Abstraktionsfähigkeit nicht denkbar gewesen wäre.

          Oder mit Marx, Kapital: „Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. „

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          • Stefanie schreibt:

            Fleischverzehr in Präteritum, Präsens und Futur

            Ich kann leider nicht direkt auf Primärliteratur zurückgreifen, allerdings auf einen Ratgeber von Peter Mersch („Wie Übergewicht entsteht und wie man es wieder los wird“), der wissenschaftliche Artikel, hauptsächlich aus der Anthropologie, heranzieht, um eine sogenannte „Low-Carb-Diet“ zu propagieren. Allerdings geht es ihm darin (trotz Titel), nicht allein ums abnehmen, sondern er propagiert diese Ernährungsform vor allem für Migränepatienten (wie ihn selbst) und Epileptiker, die tatsächlich auch schulmedizinisch/klinisch auf so eine Ernährungsweise umgestellt werden, da sie Anfällen vorbeugt.
            Das Gehirn selbst ist in seiner Energieversorgung in erster Linie auf Glucose und Glycogen angewiesen, kann in Notzeiten (Hungerstoffwechsel) allerdings auf Ketose umsteigen, also auf die Energieversorgung durch Fette. Während Muskelzellen Fette als primäre Energiequelle nutzen. Hierin sieht Mersch eine der Ursachen für die heutige Übergewichtsepidemie: der moderne Mensch leistet hauptsächlich Denkarbeit, braucht also Glucose für sein Gehirn. Sinkt der Blutzuckerspiegel, signalisiert es seinen Bedarf (Hunger) nach noch mehr Glucose, auf die Energie in den Fettpölsterchen kann es nicht zurückgreifen, also bricht das Verlangen nach Süßem durch.
            Hier taucht die Frage auf: woher nahmen die Jäger und Sammler damals, wenn der kleine Huger kam, die Schokoriegel und die Cola, um ihr Gehirn fit für die nächste Jagd zu machen? Die These lautet: vielleicht waren die Gehirne unserer Vorfahren ja darauf eingestellt auch die Ketose ganz regulär zur Energieversorgung zu nutzen und die heutige Situation mit reichlich Kohlenhydraten aus pflanzlicher Nahrung ist das ungewöhnliche.

            Demnach brachen die frühen Hominiden die Knochen von Aas auf, um an das fettreiche Knochenmark zu gelangen. Es ging dabei in erster Linie um Fett als Energieträger, um das tierische Protein erst in zweiter Hinsicht. Zitat: „Anthropologen sehen sowohl in den geistigen Anforderungen bei der gemeinschaftlichen Jagd als auch in der sehr spezifischen eiweiß- und fettreichen Ernährung den Grund dafür, daß sich das Gehirn des Menschen inden letzten 3 Mio. Jahren so bemerkenswert rasch (von 500g auf fast 1500g) entwickeln konnte. (..) Von der körperlichen Ausstattung her mögen wir Menschen überwiegend Pflanzenfresser sein, vom Gehirn her sind wir aber vermutlich in erster Linie Carnivore.“ (Dabei bezieht er sich u.a. auf die Anthroplogen William Leonhard, sowie Leslie Aiello und Peter Wheeler mit ihrer Expensive-Tissue-Ketosis-Hypothese). Daneben reduzierte sich die Größe des Darmtraktes, was auf konzentriertere, energiereichere, außerhalb des Körpers vorverdaute Nahrung zurückzuführen sei. Pflanzliche Nahrung in der Wildform, wäre zu energiearm gewesen. Man hätte zuviel Zeit mit sammeln verbringen müßen, um außreichend Nahrung zusammenzubekommen (das änderte sich mit dem Feldmäßigen Anbau von Getreide etc.)

            Im Präteritum ist die Wichtigkeit des Fleischverzehres für den Menschen recht gut zu belegen.
            Wie sieht es mit der Gegenwart aus? Pflanzliche Nahrung ist dank industriellen Anbaus in verarbeiteter, leicht verdaulicher Form, reichlich vorhanden. Sie ist auch vielseitig genug, um essentielle Fett- und Aminosäuren allein aus pflanzlicher Kost zu beziehen. Probleme gibt es bei einigen Vitaminen (z.B. B12), die haupsächlich aus tierischen Quellen stammen. Allerdings gibt es inzwischen auch synthetisch hergestellte Präparate für Veganer und Menschen mit gesundheitlichen Problemen. Es gibt auch bereits Verfahren um Fleischzellen in Nährlösungen zu züchten, so daß für das Schnitzel kein Tier mehr leiden muß. Vegane Ernährung ist also möglich, allerdings muß man sich dabei in noch stärkerer Form auf das Gestell verlassen.

            Bei den Ovo-Lacto-Vegetariern, die nicht aus gesundheitlichen, sondern aus ethischen Gründen auf Fleisch verzichten, stellt sich wie gesagt die Frage, was mit den Hähnen und den mänlichen Kälbern passieren soll. Hätscheln wir sie auf einem Gnadenhof?- Oder nutzen wir sie als Fleischlieferanten und ggf. als Zugtiere (Ochsen)? (In der heutigen Landwirtschaft, mit reinen Lege- und Fleischrassen, haben die männlichen Küken meist noch nicht mal dieses Schicksal, sondern landen gleich nach dem Schlüpfen im Schredder.)

            In einem etwas größeren Kontext betrachtet, sind Tiere dazu in der Lage, ander Nahrungsquellen zu nutzen, als Menschen: In rauen Gegenden oder auf schlechten Böden läßt sich Grünlandwirtschaft betreiben, Schweine trieb man zur Eichelmast ind den Wald oder mästetete sie, wie auch Hühner mit Essensresten. Das erweitert zum einen die Siedlungsmöglichkeiten, erhält daneben aber auch ein anderes Ökossystem (Wiese), neben dem Acker. Die wichtigste Rolle spielte in früheren (und zukünftigen?) Zeiten, wohl die Muskelkraft der Tiere, ohne die Ackerbau und Transport stark limitiert gewesen wären. Den südamerikanischen Hochkulturen fehlte solches Großvieh (Lamas taugen nur als Lasttiere).

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            • Ohne das Ausgangsthema – Faulheit, Gelassenheit – aus dem Blick verlieren zu wollen, noch ein paar private Erfahrungen.

              Ich selbst experimentiere seit einigen Wochen mit ketogener Ernährung im Zshg. mit Intervallfasten (fett ja, Kohlenhydrate (Getreide) nein) udn bin bisher sehr angetan, sowohl die geistige als auch die körperliche Verfassung betreffend. Benötige auch weniger Schlaf – und würde mich natürlich hauptsächlich als Kopfmensch sehen mit Hang zur sportlichen Betätigung.

              Das Argument, daß rein pflanzliche Nahrung zu wenig Energie biete (“ Pflanzliche Nahrung in der Wildform wäre zu energiearm“), kann ich aus eigener Erfahrung auch nicht bestätigen. Im Sommer essen wir oft nur Wildkräutersalat – Brennessel, Löwenzahn, Spitzwegerich, wilder Knoblauch, Kresse, Sprossen und was halt so wächst – nur mit Öl (Olive, Lein) angemacht, ein bißchen Gewürz … sättigt ungemein und hält lange an. Der Verdauungstrakt braucht spürbar länger, die Nahrung zu verwerten. Energie ist auch da … Natürlich nur tageweise, ohne Langzeiterfahrung.

              Vegane Ernährung braucht mehr „Gestell“? Das kann ich nicht glauben. Allein schon weil das, was man pflanzlich ißt durch die Kuh erst durch muß, nebst allen Ressourcen an Energie, Logistik, Transport, Technik … baut Gestelle von gigantischem Umfang auf, zumindest wenn man es massenhaft tut. Selbst Soja-Monokulturen werden ja nicht für Tofu gemacht. Und das bißchen synthetisches B12 kann es doch nicht sein. Also was meinen Sie?

              Um zum Thema zurück zu kommen: Wenn man kinetische Energie aus dem Gesamtsystem herausnehmen wollte, dann wäre es doch sinnvoll auf die langsame Verdauung und den trägen Stoffwechsel zu setzen, oder?

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              • Stefanie schreibt:

                „Im Sommer essen wir oft nur Wildkräutersalat – Brennessel, Löwenzahn, Spitzwegerich, wilder Knoblauch, Kresse, Sprossen und was halt so wächst – nur mit Öl (Olive, Lein) angemacht, ein bißchen Gewürz … sättigt ungemein und hält lange an. “

                In dem Fall beziehen Sie Ihre Energie wahrscheinlich hauptsächlich aus dem Öl, daß einen sehr hohen Energiegehalt hat und das Sie wahrscheinlich nicht selbst aus Früchten gewonnen haben, die Sie in der Wildnis gefunden haben. Daneben (das ist Merschs Hauptthese), „lernt“ der Körper, durch die ketogene Ernährung, die Energie aus Fetten wieder besser zu nutzen – nicht nur aus der Nahrung, sondern gerade aus den körpereigenen Reserven, die sonst unangetastet bleiben. Dadurch kommt das Gefühl der Energiegeladenheit – es steht ja meist reichlich Körperfett zur Verfügung (bei 9kcl/Gramm Fett schnell mal 100.000kcal in einem Durchschnittsmensch – das reicht, auch bei starker körperlicher Belastung, locker über Wochen). Die Wildkräuter liefern Vitamine, Mineralstoffe, Ballaststoffe, aber nur sehr wenig Energie. Sie müßten wahrscheinlich den halben Tag herumstreifen – und lieber energiereichere Beeren, Nüsse, Wurzeln und Grassamen sammeln-, um ihren Energiebedarf komplett zu decken (der durch die körperliche Aktivität dabei noch ansteigen würde). – Oder Sie versuchen es mit Pfeil und Bogen 😉 – Wenn ihre Nachbarn allerdings einen ähnlichen Lebensstil pflegen wollten, könnte es eng werden: Jagen und Sammeln läßt nur sehr geringe Bevölkerungsdichten zu.

                Um der Sache nochmal einen größeren Kontext zu geben: Europa, speziell Deutschland ist zu dicht besiedelt, um sich allein aus seiner Fläche heraus ernähren zu können. Es muß entweder Nahrung direkt importieren, Futter für die Tiere, Düngemittel oder Energie, um Düngemittel herzustellen – insbesondere Stickstoffdünger. Das ist nicht erst seit gestern so, sondern in weiten Teilen schon seit Jahrhunderten.

                Nehmen Sie das Vogtland als Beispiel: es wurde erst ab dem 13./14. Jhdt. besiedelt, weil es klimatisch und wegen armer Böden landwirtschaftlich nicht allzuviel abwirft. Selbst nach Ungarn sind die Ostkollonisateure eher gezogen, als in diese raue Ecke. Kurz darauf begann die Kleine Eiszeit, was die Sache nicht besser machte – gerade Getreide, der wichtigste Nahrungsbestandteil, gedieh in dieser Zeit sehr schlecht. Allerdings lag das Vogtland recht verkehrsgünstig und man konnte Holz bis nach Leipzig flößen, dort verkaufen und aus den fruchtbareren Gegenden Getreide für „des teire Brood“ mitbringen. Es lag auch auf einer Handelsroute zwischen Dresden und Nürnberg und Händler, bzw. Verleger, kauften von den Häuslern gefertigte Leintücher, Klöppelspitze, Fiedeln, geschnitzte Löffel und Figuren usw. – die ganze Folklore, die damals wichtige Handelsgüter waren. In anderen Gegenden, speziell in den Mittelgebirgen, war es ähnlich, denken Sie nur an die Glasherstellung im Thüringer und im Bayrischen Wald. Es war eine Art Proto-Industrialisierung: die Menschen dort lebten nun nicht mehr allein von den vor Ort vorgefundenen Gegebenheiten, sondern bestritten ihr Einkommen mehr und mehr durch die Herstellung von Gütern, die sie dann andernorts verkauften (exportierten), um von dort oder auch einem anderen Ort das Lebensnotwendige zu verkaufen. Das Überleben hängt damit stärker von der eigenen Leistung, vom Fleiß ab, als von den vorgefundenen natürlichen Lebensbedingungen. In der frühen Neuzeit wirkten diese Eigenschaften -Fleiß, Kunstfertigkeit, also Intelligenz und handwerkliches Geschick, Sorgfalt, Ordentlichkeit – also all die „deutschen Tugenden“ – als Selektionsvorteil: der intelligentere und fleißigere Tischler, Schmied oder Weber, hatte mehr überlebende Nachkommen -vielleicht vier von sechs-, als sein weniger gescheiterter Kollege, dem vielleicht fünf von sechs wegstarben (so ähnlich beschrieben bei Volkmar Weiß, Die Intelligenz und ihre Feinde). Das gilt natürlich auch für andere Eigenschaften aus dem Tugendkatalog, sofern sie eine genetische Grundlage haben. Daneben entstehen natürlich auch kulturelle, bzw. Moralische Vorstellungen aus der neuen Lebensweise. Auch kann man in einer sich entwickelnden Geldwirtschaft nochmal anders Vorsorge treffen, als in einer reinen Naturalwirtschaft mit begrenzter Haltbarkeit der Güter. Man kann Geld für sporadisch auftretende schlechte Zeiten zurücklegen (Krieg, Schlechtes Jahr) nicht nur für regelmäßige Schwankungen (Winter). So wirken die Lebensbedingungen auch auf die geistigen Eigenschaften eines Volkes zurück. – Wer dagegen in einer gleichförmigen, warmen und recht fruchtbaren Gegend lebt und eher von unvorhersehbaren Ereignissen wie Dürre oder Raubzügen feindlicher Stämme, bedroht ist, entwickelt eher eine „Inshallah“-Mentalität.

                Die deutsche (europäische) Wirtschaft, ist eine ähnliche optische Täuschung wie die Fülle im tropischen Regenwald: es gibt kaum, direkt um Land/ Boden liegende Reichtümer. Der „Reichtum“ ist fast durchweg „Umlaufvermögen“ es steckt in der vorhanden Infrastruktur, im Maschinenpark, in der Organisation und Verwaltung, besonders aber im Kopf, bzw. den Genen der Menschen (Durchschnitts-IQ als Hausnummer). Daraus entwickelt sich eine Kultur der „preußischen Tugenden“: Ehrlichkeit, Fleiß, Opferbereitschaft. Deshalb ist der Gedanke, dasselbe Land mit ganz anderen Menschen aufrecht erhalten zu können, ja so verrückt: würde man die Migranten wenigstens gezielt nach solchen Kriterien auswählen (ob nun kulturnah oder -fern), könnte man vielleicht wenigstens die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft aufrechterhalten.

                Doch solche Zusammenhänge sind Politikern scheinbar gar nicht bewußt oder auch nicht begreiflich. Es gab mal den Vorschlag, die Flüchtlinge in den „leeren“ Gegenden in Mecklenburg anzusiedeln. Ich frage mich, von was die dort leben sollten: sollte man ihnen fünf Hühner,einem Sack Weizen und einem halben Hektar Land überlassen -oder wie stellten die sich das vor? Woher soll nebenbei das Land kommen – ich wüsste nicht, daß dort im großen Stil Land wüst gefallen wäre – mit modernen Maschinen kann eine einzelner Landwirt problemlos mehrere hundert Hektar bewirtschaften. Warum sollte die Gegend also unbedingt dichter besiedelt sein? Das gleiche gilt für den Vorschlag „Neu-Damaskus“ oder „Neu-Erbil“ irgendwo (wo genau?) zu gründen: auf welcher Basis sollen diese Migrantenstädte denn leben. Vom gegenseitigem Döner- und Handykartenverkauf, vom Nagelfeilen und Bartstutzen? Wie genau sollen sie ihr Öl für die Heizung, den Strom für den Handy-Akku, Kalbfleisch und Kichererbsenmehl für Döner und Falafel erhandeln? Was soll die Gegenleistung (Exportleistung) sein, wenn es nicht Industriegüter sind? Was wenn sich unter den Zugezogenen eben keine oder zu wenig Facharbeiter finden, um die sich gerade auf den Ruhestand freuenden Deutschen aus den stärkeren Alterskohorten zu ersetzen? Die Frage stellt sich übrigens auch ganz ohne Migranten, wenn die Chinesen bzw. Ostasiaten anfangen, nicht nur Konsumgüter sondern auch Industrieanlagen etc. herzustellen, die derzeit noch ein Herzstück der deutschen Wirtschaft sind.

                Um Ihre Frage nach dem „Gestell“ in der modernen (industriellen) Landwirtschaft zu beantworten:

                Die moderne Massentierhaltung braucht natürlich auch reichlich „Gestell“ – nicht nur für Futter und Haltung, sondern auch für Transport und Kühlkette. Aber auch der Anbau von Nahrungsmitteln und Futter ist technikintensiv: nicht nur die Maschinerie auf dem Feld, sondern auch die Herstellung der Düngemittel frißt reichlich fossile Energie (Ammoniaksynthese, Trennung der Kalisalze von Natriumsalzen…), dazu der Transport aus Südamerika oder anderen Weltgegenden… Wir mögen Energie an Laubbläsern und ähnlichem Firlefanz verschwenden, aber ein großer Teil der eingesetzten Energie ist eben lebensnotwendig.

                Doch wie sollte Landwirtschaft dann aufgezogen werden? Vielleicht Biolandbau? In einer Vorlesung erläuterte unser Professor für Biolandbau einmal, warum dort soviel Wert darauf gelegt wird, ausschließlich organischen Stickstoff zu verwenden. Hauptsächlich begründete er es mit der Endlichkeit fossiler Energiequellen (neben Bodenstruktur, Auswaschung, Kreislaufwirtschaft… alles ein Kapitel für sich). Ich fragte ihn, ob das Haber-Bosch-Verfahren mit Biogas oder aus anderen regenerativen Energien dann zulässig wäre. Er meinte: im Prinzip ja, denn dann wäre die Flächenbezogenheit wieder hergestellt, allerdings wären die Verfahren wahrscheinlich nicht effektiver als die Nitrobakterien im Boden. Daher dreht sich Ökolandbau hauptsächlich um Kreislaufwirtschaft. Das ist aber eher eine Besonderheit der deutschen/bzw, europäischen Ökoverbände, in Amerika und im allgemeinen Bewußtsein ist Bio, „da wo keine Chemie drin ist“ -also chemische Pflanzenschutzmittel, Kupferpräparate, Neem, Pyrethrum, Kaliseife und Schwefel sind in Ordnung. Auch Kali, Kalk, Gesteinsmehle, organische Dünger (z.B.Hornspäne, Knochenmehl, Rhizinusschrott) oder organischer Wirtschaftsdünger (Mist aus anderen Biobetrieben) dürfen zugeführt werden. Klärschlamm allerdings nicht (auch anderswo schwierig, wegen Schwermetallen) – ohne den kann aber natürlich keine wirkliche Kreislaufwirtschaft entstehen – hier finden die tatsächlichen Nährstoffverluste statt – nicht nur von Stickstoff, sondern auch von Phosphor (der sich nicht einfach synthetisch herstellen läßt – hier braucht man abbaufähige Rohstoffvorkommen). Eine Kreislaufwirtschaft ist ebenfalls kaum aufzubauen, wenn Nahrung oder Futter über große Distanzen gehandelt werden – dann müßten ja die Ausscheidungen wieder ihren Weg zurück in die Anbaugebiete finden. Für Deutschland würde die komplette Umstellung auf Ökoanbau also bedeuten, mehr Nahrungsmittel zu importieren, wenn es eben keine Energie oder keinen synthetischen Stickstoffdünger mehr einführen wollt. D.h. Mehr Industrieproduktion, um Exportgüter gegen Nahrung einzutauschen.

                Dazu kommt ein „wie unten- so oben“ Effekt: wenn die Sterblichkeit der Menschen durch Impfungen, Antibiotika, moderne Medizintechnik etc. Sinkt, wird man bei Tieren und Nutzpflanzen ähnliche Verfahren anwenden müssen, damit die Produktivität mit dem menschlichen Bevölkerungszuwachs mithalten kann. Früher waren mir die Anthroposophen zu esoterisch, aber inzwischen denke ich, daß ihr ganzheitlicher Ansatz (z.. in Bezug auf Impfungen) durchdachter ist, als der scheinbar so wissenschaftlich argumentierende Biolandverband. Allerdings sind solche Lebensentwürfe eben nicht hochskalierbar auf eine Massengesellschaft. Eine bestimmte Fläche könnte nur eine bestimmte Anzahl an Menschen ernähren – bei der Haltung von Nutztieren mehr, als ohne diese, denn die können, wie gesagt ein anderes Nahrungsspektrum erschließen, als der menschliche Verdauungsapparat. Ebensogut könnte man einen Lebensentwurf als Nomade oder Jäger und Sammler versuchen zu verwirklichen – naturnäher wäre es. Nur stellt sich die Frage, was mit den anderen 6-7 Milliarden passieren soll, für die es dann eben nicht mehr reicht.

                „Um zum Thema zurück zu kommen: Wenn man kinetische Energie aus dem Gesamtsystem herausnehmen wollte, dann wäre es doch sinnvoll auf die langsame Verdauung und den trägen Stoffwechsel zu setzen, oder? “

                Auch wenn Sie viel Sport treiben oder körperlich schwer arbeiten, ist der größte Teil des Energiebedarfs immer noch notwendig, um die lebenswichtigen Funktionen aufrechtzuerhalten (ca. 20% davon allein fürs Gehirn). Aber natürlich kann jeder seinen persönlichen Speisezettel und Lebensentwurf auch ganz anders gestalten: man baut damit eine evolutionäre Nische aus, die sich unter anderen Bedingungen vielleicht als tragfähiger erweist, als die moderne rationale und geschäftige. Bedenken Sie aber, daß man sich kaum komplett von der Außenwelt abschirmen kann („Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“)

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  2. Antwort auf Pérégrinateur:

    Ja, es gibt hin und wieder einen!

    Und den muß man hochleben lassen – das Verrückte daran, daß dieser Solitär (oder doch die wenigen aus einer kleinen Menge Solitäre), unentbehrlich ist für die Kultur oder Civilization. Das, was „wir“ zu verteidigen haben. Aber „das Volk“ zeigt meist wenig Verständnis und duldet sie, solange es ihm gut geht.

    Montaigne, in seinem Turm, bringt es auf den Punkt. Leider scheinen diese Wahrheiten, die einst Gemeingut waren, heutzutage vollkommen vergessen zu sein und ja, man spürt es selbst, sie klingen fast ein wenig absurd. Mir selbst geht es so, daß ich sie als junger Mann wie selbstverständliche Evidenzen gelesen habe, heute aber verunsichert bin, ob der Rasanz und Gewalt, mit der sie zu Unsinn erklärt werden. Daran ersieht man, daß Gewalt als rationales Element erscheinen kann.

    Und wenn ich mir die wirklichen wichtigen Namen vor Augen führe, dann kommt zumeist dieser Typus zum Vorschein: Von A, wie Mark Aurel bis Z wie Zappa. B ist bekannt, M und N sind logisch, H auch, G kommt demnächst (Gombrowicz ginge auch) usw.

    Sie sollten wirklich Clive Bell lesen, ein ziemlich vergessener Autor aus dem Bloomsbury-Kreis. Sein Buch – hundert Jahre alt – wirkt heute wie von einem fernen Stern.

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  3. Pérégrinateur schreibt:

    Das Füllhorn der Produktivität wird nie so groß sein, dass es für jedermanns Ansprüche reicht, schon allein deshalb, weil die Ansprüche mit den Möglichkeiten wachsen. Die wenigsten streben nach einem philosophischen Leben der Muße, schon allein deshalb, weil sie was erstrebenswert ist, osmotisch durch ihre ziemlich offene Membran aus der umgebenden Gesellschaft ziehen. Eines der knappsten Güter ist in jeder Gesellschaft der Status, um ihn finden Nullsummenspiele statt, weil er relativ ist und man den seinen nur verbessern kann, indem man jemandes Status verringert. Durch symbolischen Konsum, durch Erringen fremder Aufmerksamkeit, mehr und mehr wohl durch biotechnische Aufwertung des eigenen Leibes usw. usf.

    Nun konkret. Ich habe Bauern in der entfernten Verwandtschaft, die gerne aus ihren Stallkleidern herauskommen. Aber die Angestelltenkultur in den nahen Mittelstadt entwickelt sehr viel höhere Ansprüche daran, was schickliche Kleidung sei, obwohl man dort das bäuerliche Milieu durchaus noch vor Augen hat. Konkurrenz also um die ganz kleinen Unterscheide. Ein ursprünglicher Kleinhändler eine Stadt weiter, dem der Ruf nacheilt, vergleichsweise noch durchaus auf dem Boden geblieben zu sein, nennt inzwischen ein Großunternehmen sein eigen und ließ sich vor Jahren für eine halbe Milliarde Euro eine Jacht bauen. Wenn ein Privatunternehmen irgendwann die Technik ausreichend beherrscht, dann wird es Urlaubsreisen zu Mond und irgendwann sogar Mars geben.

    Notabene: ich gönne allen ihre Steckenpferde, auch wenn ich bezweifle, das es wirklich immer ihre eigenen sind. Was sind die letzten Antriebe? Zum Beispiel sexuelle Konkurrenz, die bei den Männern vor allem über Statuskonkurrenz funktioniert und bei den Frauen eher über die Konkurrenz der verstärkten Reize. Und das wird bei der Mehrheit in alle Ewigkeit so bleiben.

    Jeder, der dabei nicht mittut, erfreut das Herz. Etwa die „innerlichen Außenseiter“ der Angestelltenkultur bei Wilhelm Genazino, die während der Arbeitszeit genüsslich den Frankfurter Spatzen zuschauen. Oder die Bessergestellten von einst, die nicht um Amt und Würden konkurrierten, sondern ein der Muße, der leichten Literatur oder der tieferen Philosophie gewidmetes Leben führten; sie waren auch damals nur eine Minderheit.

    ――――――――――――――――

    Marc-Antoine Girard de SAINT-AMANT
    1594 – 1661

    Le paresseux

    Accablé de paresse et de mélancolie,
    Je rêve dans un lit où je suis fagoté,
    Comme un lièvre sans os qui dort dans un pâté,
    Ou comme un Don Quichotte en sa morne folie.

    Là, sans me soucier des guerres d’Italie,
    Du comte Palatin, ni de sa royauté,
    Je consacre un bel hymne à cette oisiveté
    Où mon âme en langueur est comme ensevelie.

    Je trouve ce plaisir si doux et si charmant,
    Que je crois que les biens me viendront en dormant,
    Puisque je vois déjà s’en enfler ma bedaine,

    Et hais tant le travail, que, les yeux entrouverts,
    Une main hors des draps, cher Baudoin, à peine
    Ai-je pu me résoudre à t’écrire ces vers.

    [Quelle: https://poesie.webnet.fr/lesgrandsclassiques/Poemes/marc_antoine_girard_de_saint_amant/le_paresseux%5D

    – – – – – – – – – – – –

    Der Faulpelz

    Gedrückt von Faulheit und von Miselsucht,
    Träum ich im Bett, wo ich mich hingefläzt,
    Wie ein entbeinter Has in der Pastete schläft,
    Wie Don Quichotte in seinem düstern Wahn.

    Dort, unbekümmert um Italiens Kriege,
    Um Pfalzgraf oder Ihre Königs-Hoheit,
    Widm‘ ich der Muß, in der begraben fast
    Die Seel mir liegt, ein schönes Lied.

    Die Lust dünkt mir so zart und voll des Reizes,
    Dass ich mir denk, dass schlafend mir zuwachsen Güter,
    Da ich doch seh, wie sich mein Wänstlein dabei hebt;

    Und hass so sehr die Arbeit, dass ich aus Augenschlitzen
    Mir einer Hand nur unterm Laken vorgestreckt, mein Balduin,
    Nur knapp mich selbst dazu vermochte, dir die Verse hier zu schreiben.

    ――――――――――――――――

    Michel de Montaigne
    Essais III, 10

    De Mesnager sa Volonté

    Au pris du commun des hommes, peu de choses me touchent, ou, pour mieux dire, me tiennent ; car c’est raison qu’elles touchent, pourveu qu’elles ne nous possedent. J’ay grand soin d’augmenter par estude et par discours ce privilege d’insensibilité, qui est naturellement bien avancé en moy. J’espouse, et me passionne par consequant, de peu de choses. J’ay la veue clere, mais je l’attache à peu d’objects ; le sens delicat et mol. Mais l’apprehension et l’application je l’ay dure et sourde : je m’engage difficilement. Autant que je puis, je m’employe tout à moy ; et en ce subject mesme, je briderois pourtant et soutiendrois volontiers mon affection qu’elle ne s’y plonge trop entiere, puis que c’est un subject que je possede à la mercy d’autruy, et sur lequel la fortune a plus de droict que je n’ay. De maniere que, jusques à la santé que j’estime tant, il me seroit besoing de ne la pas desirer et m’y adonner si furieusement que j’en trouve les maladies importables. On se doibt moderer entre la haine de la douleur et l’amour de la volupté ; et ordonne Platon une moyenne route de vie entre les deux. Mais aux affections qui me distrayent de moy et attachent ailleurs, à celles là certes m’oppose-je de toute ma force. Mon opinion est qu’il se faut prester à autruy et ne se donner qu’à soy-mesme. Si ma volonté se trouvoit aysée à se hypothequer et à s’appliquer, je n’y durerois pas : je suis trop tendre, et par nature et par usage,

    fugax rerum, securaque in otia natus.

    Les debats contestez et opiniastrez qui doneroyent en fin advantage à mon adversaire, l’issue qui rendroit honteuse ma chaude poursuite, me rongeroit à l’avanture bien cruellement. Si je mordois à mesme, comme font les autres, mon ame n’auroit jamais la force de porter les alarmes et emotions qui suyvent ceux qui embrassent tant ; elle seroit incontinent disloquée par cette agitation intestine. Si quelquefois on m’a poussé au maniement d’affaires estrangieres, j’ay promis de les prendre en main, non pas au poulmon et au foye ; de m’en charger, non de les incorporer ; de m’en soigner ouy, de m’en passionner nullement : j’y regarde, mais je ne les couve point. J’ay assez affaire à disposer et renger la presse domestique que j’ay dans mes entrailles et dans mes veines, sans y loger, et me fouler d’une presse estrangere ; et suis assez interessé de mes affaires essentiels, propres et naturels, sans en convier d’autres forains. Ceux qui scavent combien ils se doivent et de combien d’offices ils sont obligez à eux, trouvent que nature leur a donné cette commission plaine assez et nullement oysifve. Tu as bien largement affaire chez toy, ne t’esloingne pas. Les hommes se donnent à louage. Leurs facultez ne sont pas pour eux, elles sont pour ceux à qui ils s’asservissent ; leurs locataires sont chez eux, ce ne sont pas eux. Cette humeur commune ne me plaict pas : il faut mesnager la liberté de nostre ame et ne l’hypothequer qu’aux occasions justes ; lesquelles sont en bien petit nombre, si nous jugeons sainement. Voyez les gens apris à se laisser emporter et saisir, ils le font par tout, aux petites choses comme aux grandes, à ce qui ne les touche point comme à ce qui les touche ; ils s’ingerent indifferemment où il y a de la besongne et de l’obligation, et sont sans vie quand ils sont sans agitation tumultuaire. In negotiis sunt negotii causa. Ils ne cherchent la besongne que pour embesongnement. Ce n’est pas qu’ils vueillent aller, tant comme c’est qu’ils ne se peuvent tenir : ne plus ne moins qu’une pierre esbranlée en sa cheute, qui ne s’arreste jusqu’à tant qu’elle se couche. L’occupation est à certaine maniere de gens marque de suffisance et de dignité. Leur esprit cerche son repos au branle, comme les enfans au berceau. Ils se peuvent dire autant serviables à leurs amys comme importuns à eux mesme. Personne ne distribue son argent à autruy, chacun y distribue son temps et sa vie ; il n’est rien dequoy nous soyons si prodigues que de ces choses là, desquelles seules l’avarice nous seroit utile et louable. Je prens une complexion toute diverse. Je me tiens sur moy, et communéement desire mollement ce que je desire, et desire peu ; m’occupe et embesongne de mesme : rarement et tranquillement. Tout ce qu’ils veulent et conduisent, ils le font de toute leur volonté et vehemence. Il y a tant de mauvais pas que, pour le plus seur, il faut un peu legierement et superficiellement couler ce monde. Il le faut glisser, non pas s’y enfoncer.

    [Quelle: https://fr.wikisource.org/wiki/Essais/Livre_III/Chapitre_10%5D%5D

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    Den eigenen Willen schonen

    Gemessen an den meisten Menschen sind es nur wenige Dinge, die mich berühren oder, genauer gesagt, die mich packen; denn billig dürfen sie einen berühren, wofern sie einen nur nicht gefangennehmen. Ich gebe mir viel Mühe, durch Studium und Überlegung diesen Vorzug der Empfindungslosigkeit noch zu vermehren, die bei mir von Natur aus schon sehr weit geht. Nur Weniges ziehe ich zu mir und nehme ich mir in der Folge zu Herzen. Mein Blick ist klar, doch ich hefte ihn nur auf wenige Dinge. Ich empfinde nur schwach und weich. Doch Verständnis und Fleiß sind bei mir hart und stur – ich verpflichte mich also nur unter Mühen. So sehr ich nur kann, beschäftige ich mich ganz mit mir selbst; und sogar zu diesem Gegenstand würde ich meine Zuneigung am liebsten zügeln und zurückhalten, damit sie sich nicht zu weit hineinstürze, weil das ein Gegenstand ist, den ich auf fremde Gnade hin besitze und über den das Glück mehr Recht hat als ich selbst. So dass es mich, bis hin zur Gesundheit, die ich doch so sehr schätze, drängt, sie nicht so sehr zu begehren und mich nicht so wild in ihr zu ergehen, dass mir darüber die Krankheiten unerträglich würden. Man soll sich mäßig halten zwischen dem Hass auf den Schmerz und der Liebe zur Lust; und Platon gebietet einen mittleren Lebensweg zwischen beiden. Denen Neigungen aber, die mich von mir selbst ablenken und anderswo anbinden, denen widersetze ich mich gewiss mit aller Kraft. Nach meiner Ansicht soll man sich selbst anderen nur leihen, einem selbst aber geben. Und selbst wenn es denn meinem Willen leicht fiele, sich Lasten aufzuladen und fleißig zu wirken, so würde ich doch nicht durchhalten; denn ich bin von Natur und durch Gewohnheit zu zart,

    fugax rerum, securaque in otia natus.

    Die wilden und halsstrarrigen Debatten, die am Ende doch meinem Opponenten zuneigten, der Ausgang, der mein heißes Bestreben beschämte, würden mich übrigens grausam zwacken. Wenn ich mich so verbeißen würde, wie die anderen es tun, so hätte doch meine Seele nicht die Kraft, die Aufregungen und Befürchtungen zu ertragen, welche jene verfolgen, die sich so viel zu Herzen nehmen; gleich würde sie durch diese innere Erregung aus der Bahn geworfen. Wenn man mich manchmal zur Führung fremder Geschäfte gedrängt hat, so habe ich zugesagt, sie zwar in die Hand zu nehmen, aber nicht auf die Lunge und die Leber; sie mir aufzuladen, aber nicht sie in mich hineinzufressen; ja, mich darum zu bekümmern, aber keineswegs sie mit Leidenschaft zu verfolgen; ich schaue schon drauf, aber ich bebrüte sie nicht. Ich habe genug damit zu schaffen, den inneren Druck zu lenken und zu verräumen, der mir in Eingeweiden und Venen steckt, ohne dort noch fremden Druck hineinzubringen und mich von diesem quetschen zu lassen; und ich bin ausreichend beschäftigt mit meinen wesentlichen, eigenen und natürlichen Angelegenheit, als dass ich noch andere und ferne begehrte. Die wissen, was sie sich selber schulden und wieviele Dienste sie sich selbst leisten müssen, finden, dass die Natur ihnen diese ausreichend umfängliche und keineswegs müßige Aufgabe erteilt hat. Du hast genug mit dir selbst zu tun, lauf also nicht fort. Die Menschen aber verpachten sich selbst. Ihr Gaben sind nicht für sie selbst, sie sind für jene, in deren Knechtschaft sie sich begeben; ihre Mieter sind zuhause, sie selbst sind es nicht. Diese allgemeine EInstellung gefällt mir überhaupt nicht; wir müssen die Freiheit unserer Seele schonen und sie nur unter den rechten Umständen belasten, die recht besehen in recht kleiner Zahl sind. Schaut nur, wie die Menschen gelernt haben, sich mitreißen und sich ergreifen zu lassen, sie machen das überall, bei kleinen wie bei großen Dingen, bei Dingen, die sie überhaupt nicht betreffen wie bei denen, die sie betreffen; unterschiedslos drängen sie sich überall hinein, wo es Aufgabe und Verpflichtung gibt, und sind leblos, wenn sie nichts wild umtreibt. In negotiis sunt negotii causa. Sie suchen das Geschäft um der Geschäftigkeit willen. Es ist weniger so, dass sie gehen wollten, als vielmehr, dass sie sich nicht halten können, nicht mehr noch weniger als ein erschütterter Stein bei seinem Sturz, der erst innehält, wenn er endgültig liegenbleibt. Manchen Leuten gilt Beschäftigtsein als ein Zeichen von Intelligenz und Würde. Ihr Geist sucht seine Ruhe in der Erschütterung, so wie die Kinder in der Wiege. Sie können von sich sagen, dass sie ihren Freunden gegenüber ebenso dienstbar sind wie sich selbst gegenüber lästig. Niemand verschenkt sein Geld an die anderen, aber jeder verschenkt an sie seine Zeit und sein Leben; mit nichts anderem gehen wir so verschenderisch um wie mit diesen beiden, bei welchen allein uns Geiz nützlich und des Lobes wert wären. Ich habe da eine ganz andere Haltung. Ich halte mich an mich selbst und begehre gewöhnlich nur schwach, was ich begehre, und begehre überhaupt wenig; und verwende und beschäftige mich in gleicher Weise, nämlich selten und ruhig. Alles, was sie wollen und betreiben, machen sie mit vollem Willen und voller Heftigkeit. Es gibt aber so viele Fehltritte, dass man am sichersten ein bisschen leicht und oberflächlich durch die Welt läuft. Man muss auf ihr dahingleiten und darf nicht in sie einsinken.

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