Die Kunst des Wartens

In seinen Augen zerfiel das Leben in zwei Hälften: die eine bestand aus Arbeit und Langeweile – für ihn waren das synonyme Begriffe -, die andere aus Ruhe und heitrem Behagen. (Gontscharow: Oblomow)

Ein Mal am Tag – ich verrate nicht, wo – nehme ich mir die Zeit und ziehe ein paar Sprachkarten aus einem Stapel und versuche die Vokabeln zu lernen, die ungarischen Sätze zu verstehen. Heute lese ich den Satz: „A pénztáraknál gyakran kell sorban állni“. Die idiomatische Wendung „kell valakinek valamit“ – „etwas müssen“ –, die sich darin versteckt, stellt ein besonders schönes Beispiel der inneren Logik der ungarischen Sprache dar. Übersetzt lautet der Satz: „An den Kassen (Mz!) muß man oft Schlange stehen.“

Das ist die ganze Wahrheit.

Wenn man eine alte Tugend in Ungarn wieder erlernt, dann ist es die Kunst des Wartens. Nicht etwa, weil es exorbitanten Mangel gäbe, wie das punktuell in der DDR bei den berühmten Bananen etc. der Fall war, sondern weil die Abläufe weit weniger nach Effektivität organisiert werden als in Deutschland und weil die Menschen scheinbar noch daran gewöhnt sind oder sich widerstandslos darein ergeben haben.

Geduldig steht man in der Schlange und wartet. Niemand wippt nervös mit den Füßen, schaut gestreßt auf die Uhr oder murmelt aggressive Sprüche in seinen Bart. Man steht und wartet, schaut vor sich hin und wartet.

Wie in alten Zeiten – ich merke, ich habe es vermißt! Das Leben, wird einem wieder zu Bewußtsein gebracht, ist eigentlich nichts anderes als ein langes Warten auf dies und das und besonders auf den. In Ungarn kann man es wieder erlernen.

Am intensivsten in der Post. Der Geldverkehr läuft hier noch ausschließlich über Scheck. Jede Woche erreichen uns ein oder zwei Geldüberweisungsvorlagen: Gas, Strom, Wasser, Internet, alles fein säuberlich getrennt. Alle zwei Monate klingelt es an der Tür und jemand liest die neuesten Stände ab, um uns wenig später die Scheine zuzusenden. Der Briefträger ist eigentlich kein Briefträger, sondern ein Rechnungsträger, er dürfte längst nicht mehr levélhordó heißen, sondern müßte pénzesutalványhordó genannt werden.

In der Post steht man Schlange. Vor mir und hinter mir halten Menschen Überweisungsvorlagen in der Hand. An der Kasse machen die Frauen nichts anderes, als diese Scheine in ein Registriergerät zu schieben, auf einen Ausdruck zu warten und dann das Geld zu kassieren und zu wechseln. Oft erkennt das Gerät den Code nicht, dann wird der Schein in langsamen Bewegungen ein zweites oder drittes Mal eingeschoben, noch einmal glatt gezogen und wenn es dann noch immer nicht geht, dann muß der ellenlange Code eben eingetippt werden.

Drei oder vier Leute stehen vor mir, die meisten haben einen ganzen Stapel an Scheinen in der Hand. Das kann dauern!

Es ist eine neue, nein, eine längst vergessene Erfahrung: Warten! Auf etwas warten. Schlimmer noch, besser noch: auf jemanden warten. Demut und Gelassenheit – wir Deutschen haben zwei wunderschöne Wörter für das, was man nun braucht.  Das Hirn fährt seine Aktivität herunter, Farben und Töne der Umgegend verblassen und vermischen sich und bald ist man in seinem eigenen inneren Reich, bis man irgendwann später, lange später, aus den Gedanken gerissen wird: „Tessék!“ – „Sie wünschen?“ Ja, was wohl!

Was soll ich schon wünschen? Das gleiche, was Menschen an diesem Schalter vor mir und nach mir wünschten und wünschen werden und das jede Stunde, Tag für Tag und wohl seit vielen Jahren.

Was hat die deutsche und französische Philosophie sich nicht mit dem Begriff der Langeweile herumgeschlagen. „Unalom“ auf Ungarisch. „Un“ ist so eine „Ursilbe“, um die sich ein ganzer Hof an Vokabeln bildet, von Überdruß und Abscheu über Ekel bis Langeweile. „álom“ ist der Traum. Hier haben wir wieder eines dieser Wörter – und es gibt viele – die an eine tiefe Verwandtschaft der Ungarn und der Deutschen glauben lassen – aber wenn ich das meinen Ungarn erkläre, dann werden sie wieder vehement alles ableugnen: Nein, das hat damit nichts zu tun …

Wer weiß! Sollen sie friedlich weiter träumen in ihren Schlangen. Möge man sie noch lange vor deutscher Effektivität und teutonischer Ungeduld bewahren!

Siehe auch: Der Heimatbegriff der Magyaren

Am Abend mancher Tage

6 Gedanken zu “Die Kunst des Wartens

  1. JJA schreibt:

    „Würde man Barthold fragen, was eigentlich für seine Lebensumstände am typischsten wäre, müsste er nach längerem Überlegen, nötig, die Gewöhnung an ebendiese Umstände durchbrechen und ihre Besonderheit erkennen zu können, das Warten in allen seinen Erscheinungsformen nennen. Vom simplen Harren in konkreter Einkaufsschlange auf Bedienung sowie dem gleichen, doch abstrakteren Warten auf einer Liste mit Konsumgütern gehobenen Bedarfs, zu den höheren Ebenen der Erwartung verbesserter Arbeitsbedingungen, Prämien, Gehaltsaufbesserungen bis zu gesteigerten Formen, in denen das Warten zum Hoffen wurde, wodurch die individuellen Ziele zu allgemeinen erweitert wurden: man ein größeres Maß an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu erhalten gedenkt, doch in diesem umfänglicheren Bereich ähnlich oder ganz genauso versorgt wird wie es im Konsum-Laden, und die Ecke, wo das Bier entweder vor Bartholds Erscheinen ausverkauft ist oder erst noch kommen soll, das Weißbrot überhaupt wieder mal ausblieb und die ungarische Salami, ein legendäres Genussmittel, an eine kleine Gruppe privilegierter Kunden heimlich verteilt wurde.“

    aus: Günter Kunert, Die zweite Frau (vor 45 Jahren geschrieben, 2019 erschienen)

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  2. Pérégrinateur schreibt:

    Die Deutschen und ihre Ungeduld …

    Gebranntes Kind scheut das Feuer. Man hat mich einmal wegen einer Bauchgeschichte eilig ins Krankenhaus eingeliefert, wo ich dann zwei Wochen bleiben musste. Ohne bei der Transporthudelei Bücher eingepackt zu haben. Ich war für den Aufenthalt also exklusiv auf die Patientenbibliothek des sehr christlichen Hauses angewiesen: Fromme Traktätchen, „Krankheit als Chance“, Erich Fried, Theologisches usw., mir wurde schon schlecht beim Blick auf die Liste ausleihbarer Bücher. Letztlich gab es nur zwei Romane von Dostojewski und den Alexis Sorbas, die ich mir zumuten mochte. Durch die Perspektive des Kranken, der selbst manchmal auch nicht so recht helle ist, erfuhr übrigens Rodion Raskolnikoff mehr Empathie als bei der vorangehenden Lektüre.

    Wie auch immer, jedenfalls lernte ich durch diese Situation, dass man immer, immer, immer zwei bis drei Bücher dabei haben sollte, es kann schließlich jederzeit etwas passieren, und vom Blitz erschlagen zu werden und so gleich tot zu sein ist nicht das Schlimmste darunter. Gang in die Bäckerei, um zwei Brötchen zu kaufen – nur noch mit einem Buch in der Hand oder im Rucksack, ebenso im Supermarkt, wo ich, während andere mit gestresst in der nicht vorwärtskommenden Schlange vor der Kasse stehe, gelassen mein Buch herausziehe und zu lesen beginne. Es gibt einen Typus von Mitbürger, der gerade diese fremde Gelassenheit überhaupt nicht erträgt. Wenn ich auch noch eine Zeitung dabei habe, biete ich diese zuweilen meinen nervösen Hintermännern und -frauen an, aber immer vergeblich. Immerhin scheint sie das kleine Gespräch dabei zuweilen etwas ruhiger zu machen.

    Einmal stand ich an einem Samstagnachmittag in der Adventszeit eng zwischen Stapelhaufen und natürlich lesend im Vorfeld zweier Kassen, die Schlange teilte sich etwas vor mir und nach der Enge, ich rückte aber die Einkaufswagenlänge Lücke zwischen mir und der Teilung nicht gleich auf, was meinen Hintermann schier um den Verstand brachte. Da hatte er eine Idee: Da ich doch vermeintlich von meiner Umgebung nichts mitbekam, forderte er mich schlau auf, die Lücke zu schließen und mich gleich an die rechte Schlange davor anzuschließen. Ich hatte aber durchaus aus den Augenwinkeln gesehen, dass es links sehr viel schneller voranging und antwortete ihm gelassen lächelnd, „Ach wissen Sie, es stehen ja noch genügend Leute vor beiden Kassen, ich muss mich also noch nicht entscheiden.“ Worauf sein Gesicht soviel unverstellten Hass zeigte, wie ich es kaum je gesehen habe; zum Glück wurde er nicht handsgemein.

    Ähnliche Situationen erlebt man beim Stau auf der Autobahn. Wenn die Ziehharmonika spielt, versuche ich stets, das leidige Spiel von Stop and go zu vermeiden, indem ich in eine sich vor mir auftuende kleine Lücke nur ausrollend aufrücke. Das bringt manche Hintermänner (kaum je -frauen) dazu, wild zu hupen und mit den Scheinwerfern zu blinken. Und wenn sich links dann unverhofft eine Lücke auftut, überholen mich manche davon mit jaulendem Motor, um gleich wieder scharf in meine Spur einzubiegen und allenfalls vierzig oder fünfzig Meter vor mir eine Vollbremsung hinzulegen. Immerhin gewinnt man so eine Wagenlänge und ist dann zwei Sekunden früher am Ziel … Es würde mich, glaube ich, weniger stören, wenn solche Adrenalinsüchtigen von ihrem heißen Herzen hierbei knockout geschlagen würden, als wenn irgend woanders die Rinden leidenschaftsloser Bäume ihres Charakters halber Abrasionen erleiden müssten.

    Man kann beim Warten auch, laut oder still, gelernte Gedichte aufsagen und so durch Wiederholung vor der stetigen Degradation in der Erinnerung bewahren. Vorausgesetzt natürlich, man hat je welche gelernt. Eine befreundete gymnasiale Deutschlehrerin musste einmal eine zehnte Klasse übernehmen, in der noch nie ein Gedicht gelesen oder besprochen worden war. Aber vielleicht ist diese Gattung heute wieder lebendiger, nachdem man zu bestimmten Gedichtvorträgen schließlich kleidsame Goldkettchen tragen kann, so wie einer dieser Jungs hier:

    https://michelonfray.com/
    “Lettre à Manu sur le doigté et son fondement” zum 1. 10. 2018

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    • Schreckliche Vorstellung: in einem Supermarkt drei Tage lang Geisel zu sein – zu wenig, um Arabisch zu lernen – und nichts zu lesen dabei zu haben. Nur aus diesem Grund kann der liebe Gott die Reclam-Bändchen erfunden haben; ansonsten wären sie nicht zu rechtfertigen.

      Allerdings: auch das Bedürfnis nach Lektüre ist ein Zeichen dafür, daß „wir“ das Warten verlernt haben, das wirkliche Nichts-Tun. Lassen Sie sich mal darauf ein, erinnern sie sich an ihr erstes vergebliches Rendezvous … unglaublich, was da alles in einem vorzugehen beginnt. Damit wären Sie auch schon halb auf der Seite Rüdiger Dahlkes oder Thorwald Dethlefsens. Von denen stammt der Klassiker „Krankheit als Chance“, in dem sich – neben einigem Müll – auch manch tiefer Gedanke verbirgt. Auch solche Bücher kann man – cometh the hour, cometh the book – so lesen, wie man den Koran lesen sollte.

      Apropos: Bin schon gespannt, wie Sarrazin vor diesem Hintergrund sich schlägt. Leider zu dick für Reclam und damit auch für die shopping-mall-experience. Das wäre mal eine interessante Erfahrung …

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      • Pérégrinateur schreibt:

        Unternehmen Sie mal alleine nach frühem Aufstehen durch menschenleeren Wald eine tageslange Wanderung, unbedingt ohne Begleitung. Während man die ersten ein, zwei Stunden zunächst noch einen vollkommen stumpfen Kopf hat, beginnt das Hirn danach die wildesten Hirngespinste auszubrüten, der wilde assoziative Gedankenfluss lässt einen zuweilen in Lachen ausbrechen, man redet laut mich sich selbst und eine etwas ängstliche Frau, die einem zufällig begegnen würde, würde wohl voll Furcht vor dem Waldschrat die Flucht ergreifen. Unternimmt man eine solche Wanderung in die Nacht hinein, dann ist es einem die ersten paar Male anfangs recht bange, etwa wenn man sich aus dem dämpfenden Nebel an den dunkel stehenden Wald annähert. Hat man diesen betreten, dann knistert und knackt beständig Gott weiß was um einen herum, und weil der Wind aus dem Freien nicht folgt, wird es plötzlich zwei oder drei Grad wärmer. Man denkt sich irgendwann, jetzt könnte ruhig ein Bär kommen und einen fressen – und auch das wäre gut. Auf solchen Expeditionen kann man sich den nicht menschenbezogenen Aspekt des Weltgefühls von Meursault verschaffen, wie es Camus auf den letzten Seiten des « Étranger » schildert: « La tendre indifférence de la nature … »

        Schlimmer als völliges Unbeschäftigtsein und leeres Warten, bei dem man doch wenigstens das allzeit offene Kopfkino besuchen kann, finde ich Beschäftigung, die zwar zu einer Grundaufmerksamkeit zwingt, ohne einen aber doch geistig einigermaßen zu erfüllen, wie etwa das Autofahren.

        Hierzu gibt es aber verbreitet ganz andere Einstellungen. Eine Verwandte von mir liebt das Fahren nämlich geradezu deswegen. Sie berichtete irgendwie passend dazu auch, dass sie ihre Hausaufgaben während der Schulzeit nur bewältigen konnte, indem sie dazu im Hintergrund Radio hörte, weil sie das „lockerer“ gemacht habe. Die Menschen sind verschieden.

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        • Da verstehen wir uns vollkommen – I had my share of loneliness.

          Im Auto wiederum kann das Buch nützen. Kositza berichtete kürzlich, daß sie sich, wenn sie gemeinsam fahren, gegenseitig vorlesen. Kann man machen, wenn einem nicht schlecht wird dabei. Ansonsten ist ein gutes Hörbuch, eine gekonnte Lesung immer zu empfehlen. Wer weiß, vielleicht geht einem Raskolnikow noch einmal ganz anders auf, wenn man ihn von Gert Westphal vorgelesen bekommt: ein Erlebnis!

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          • Pérégrinateur schreibt:

            Im Bus schaffe ich, möglichst schaukelfrei mitten zwischen den zwei Achsen sitzend und lesend, nur 10 bis allenfalls 12 Kilometer, ehe mir übel zu werden beginnt. (Ich lese manchmal trotzdem, weiter, wenn das Buch interessiert, solange eben der Grenznutzen das Grenzübel übertrifft.) Im Zug kann man im Prinzip endlos lesen, beschränkt nur durch die Furcht, den Um- oder Ausstieg zu verpassen. (Was mir unlängst einmal im Bus widerfahren ist, mit der Folge, dass ich drei Stationen zu spät ausgestiegen bin, und dort auch nur nach Hinweis einer Begleiterin, die mich kennt und sich gewundert hatte; danach eine Stunde Nachtwanderung nach Hause.) Im PKW kommt die Schranke noch früher als im Bus.

            Hörbuchfassungen schon gelesener Bücher sind heikel und auch später gehörte, möglicherweise sogar bessere Einspielungen klassischer Musik. Offenbar geht es mir wie den Kindern, denen man leicht veränderte Märchen vorliest und die das so nicht hören mögen: Das Neue passt nicht zum schon im eigenen Kopf gebauten Modell, das bei Kindern vermutlich sehr litteral ist, weil sie ein beneidenswert gutes Gedächtnis haben. Auch Verfilmungen von schon Gelesenem finde ich immer schlecht (und bei weitem nicht nur durch den Medienwechsel und die unvermeidlichen Kürzungen – Denken Sie nur daran, was eine Verfilmung aus Doderers Dämonen machen würde!) und die Rollen immer unpassend besetzt; meine Puppen tanzen besser!

            Eine Ausnahme – nach eigenem Gusto arrangiert, aber die Weltsicht Célines und diese eigentümliche Mischung aus Pessimismus und burlesker Satire ist exakt getroffen – ist die szenische Umsetzung des Autors durch den noch jungen Fabrice Luchini, z.B. hier:

            Aber ich muss jetzt wirklich los zum Bus, mit ‹ Décadence › von Michel Onfray. Wo ich es zugeschlagen habe, war es recht interessant; ich befürchte, ich werde 15 Kilometer lang lesen müssen.

            Seidwalk: Der Begriff „Hörbuch“ war nicht ganz korrekt – ich meinte natürlich nur Lesungen und dazu bedarf es stets eines entsprechenden Lesers. Westphal, Sander, Samel etc. kann man meist vertrauen. Es ist auch meine bevorzugte Methode im Fremdsprachenbereich, dann am besten mit Parallellesen – sehr intensiv.

            Hörspielfassungen finde ich prinzipiell zu invasiv und – wie beim Film – oft zu simplifizierend, kenne aber Leute, die drauf schwören. Ist wahrscheinlich auch einfacher, eine halbe Stunde Krimi zu hören als 700 Seiten zu lesen.

            Apropos: lesen Sie den Onfray fix fertig – dann können wir uns demnächst weiter unterhalten.

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