Gedanken zum CL Finale

Man kann nicht nichts lernen – aus Fußballspielen schon gar nicht. Und über dieses, das Finale zwischen Liverpool und Real Madrid, kann man heute schon Bücher schreiben. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, so viele Aufregungen bot das Spiel.

Turniere wie die CL sind extrem unökonomische Veranstaltungen. Nur eine Mannschaft aus 36 (80 mit Vorqualifikation) darf sie mit Freude abschließen; alle anderen enden mit Enttäuschung und Leid. Eine Metapher des Lebens.

Und das Leid nimmt zu, je weiter man sich qualifiziert. Für Liverpool wird dieser Abend ein Trauma bleiben. Hätten sie sich im Viertelfinale gegen Manchester City geschlagen gegeben, wie es die newtonsche Fußballphysik vorschrieb, dann wäre die Enttäuschung eine maßvolle geblieben, eine kleine Karambolage, über die schon heute niemand mehr ein Wort verlieren würde. Aber nein, man mußte ja Quantenfußball spielen, Chaostheorie, unkonventionellen Alles-oder-Nichts-Fußball ohne alle Regeln der Kunst, man wollte den Gegner überraschen – was in der Regel auch in den ersten 80 Minuten gelang; die letzten zehn gehörten dem Gebet. Man braucht sich also nicht wundern, wenn nun die große Bombe platzt, die den Klub vielleicht wieder ein paar Jahre zurückbombt.

Diese Taktik kann ein, zwei, vielleicht auch drei Mal gut gehen, aber sie stößt mit der Zahl der Runden an die Grenzen der Wahrscheinlichkeit. Deswegen ist es auch möglich, daß in der Europameisterschaft bis 2012, mit nur sechs Runden, hin und wieder ein Außenseiter gewinnen kann (Dänemark, Griechenland), in der Weltmeisterschaft, mit sieben Runden, ist das nahezu ausgeschlossen, weil dieser letzte Schritt der Unwahrscheinlichkeit die Gesamtwahrscheinlichkeit exponentiell verringert.

Das gestrige Spiel war eine brillante Bestätigung des „Peter-Prinzips“, auf kollektiver und individueller Ebene. Das Peter-Prinzip nach Peter&Hull beschreibt den folgerichtigen Aufstieg in hierarchischen Systemen in die Inkompetenz. Kompetenz führt zu sozialen Aufstiegen, aber eben nur so lange, bis die Stufe der eigenen Inkompetenz erreicht ist. „Gipfelfähigkeit“ – ich nenne das gerne Exzellenz – ist eine sehr rare Ware. Es kommt also darauf an, zumindest, sofern man glücklich sein will, die letzte Beförderung zu vermeiden, jene also, die einen in Regionen gelangen läßt, für die man nicht mehr kompetent ist und die letztlich zwangsläufig zum Tritt von der Leiter führt.

Liverpool, Jürgen Klopp, Mohamed Salah und natürlich der Unglücksrabe Loris Karius haben das gestern Abend exemplarisch vorgeführt. Wenn Liverpool ein Klub mit einem Plan, einer wirklichen Strategie wäre, dann dürften demnächst einige dramatische Entscheidungen bevorstehen. Auch Klopp müßte zur Disposition stehen, denn die Niederlage gestern, vor allem die Art und Weise, geht auf seine Kappe. Klopp ist für die letzte Beförderung (noch) nicht geeignet.

Karius‘ unglaubliche Fehler waren voraussagbar – und (leider können das nur vier anonyme Leute bestätigen): ich hatte ihn, ja sogar alle beiden Patzer vorausgesagt. Daß es so drastisch ausfällt, war freilich eine Überraschung. Der erste Fehler, Benzema den Ball direkt gegen den Fuß zu werfen, war so gravierend, daß er selbst dann viral gegangen wäre, wenn er in irgendeiner Kreisliga aufgezeichnet worden wäre. Daß so etwas in einem CL-Finale passiert, kann einem schon die Lust am Fußball nehmen. Ich hatte den Impuls, abzuwinken und den Raum zu verlassen, denn Karius hat damit das System Fußball ad absurdum geführt. Man hätte sich von Benzema gewünscht, dies durch dezenteres Jubelverhalten anzuerkennen.

Sein zweiter Fehler war dann leicht zu prognostizieren. Ein derart verunsicherter Torwart würde jede Flanke aus Angst unterlaufen – nun war es eben ein 35m-Schuß. Klopp hätte nach dem ersten Patzer reagieren und Mignolet einwechseln können, der sich freilich in der Saison ebenso fehleranfällig gezeigt hat. Das wäre brutal  gewesen, hätte aber auch Größe gezeigt, denn dann hätte er sich dem Vorwurf der „Unmenschlichkeit“ und Härte ausgesetzt. In diesen Höhen sind emotionale „Schwächen“ aber keine Option mehr. Sind sie zu stark, bist du zu schwach.

Das Torwartproblem bei Liverpool war seit langem bekannt. Seit Klopp übernommen hat, schwimmt die Abwehr und kann in den Keepern keinen Rückhalt finden. Man hatte in der Winterpause 120 Millionen für Couthino eingenommen und davon 80 Millionen für einen Innenverteidiger von Format – van Dijk – ausgegeben und die Abwehr deutlich stabilisiert. Bei seinen Torhütern stellte sich Klopp aber stur. Karius kam auf seinen Wunsch 2016 von Mainz nach Liverpool und hat nie wirklich überzeugt. Mal war er drin, bis er patzte, mal war er draußen, bis Mignolet patzte. So ging es hin und her nach dem Prinzip Hoffnung. Daß dieses Prinzip ausgerechnet auf der größten Bühne wie eine Seifenblase platzt, bedeutet viel!

Wäre Klopp ein systematischer und akribischer Trainer wie Guardiola oder selbst Mourinho, der eine Mannschaft methodisch aufbauen will, dann hätte diese Frage höchste Priorität gehabt. Wenn Liverpool tatsächlich den Anspruch stellt, wieder an die großen Zeiten in den 70ern anzuschließen, dann wird das mit diesem Trainer nicht gehen.

Auch für Karius war der Entschluß, in die Premier League zu gehen, falsch. Es war sein Schritt in die Inkompetenz. Vielleicht hätte er sich in Mainz oder in Freiburg oder einem ähnlichen Klub einen Namen machen können, von mir aus auch in Huddersfield, aber für ein Weltklasseteam, für ein frenetisches Publikum von 60000 Menschen, für die weltweite Übertragung ist er zu weich. Das sieht man auf den ersten Blick. Wenn er Glück hat, kann er es nun in Mainz noch einmal probieren oder vielleicht auch in Aue auf der Bank. In Liverpool, in der ganzen Liga, ist er nun unmöglich geworden, auch wenn zu fürchten ist, daß Klopp es aus Herzensgüte noch ein weiteres Mal probieren wird und riskiert, den armen Menschen gänzlich zu zerstören.

Noch ein Wort zu Mo Salah, dem ägyptischen Zauberer. Er spielte – nach einigen Anfangsschwierigkeiten – eine überragende Saison und hat bewiesen, daß es für ihn kaum eine Kompetenzgrenze geben wird. Ihm hat Liverpool viel, fast alles zu verdanken – ihm und Allah. Man muß aber begreifen, daß die Abhängigkeit einer Mannschaft von einem einzigen genialen Spieler immer eine Schwäche ist. Auch hier versagte Klopp.

Mit dem Ausfall Salahs zerbröselte das Spiel der Reds und es konnte fast nur noch einen Gewinner geben. Das unterscheidet sie auch von Madrid, die durchaus nicht nur von Ronaldo abhängen, wie oft kolportiert wird. Das gestrige Spiel war der beste Beweis, denn Ronaldo fand fast nicht statt und trotzdem war Real die bessere Mannschaft. Dort läuft ohnehin fast alles über Kroos und Modrić und wenn die ausfallen, dann können eben Isco oder Marcelo das Ruder übernehmen – oder Gareth Bale, dessen Tor, nebenbei, zu den schönsten der Fußballgeschichte zählt, weil es allen Gesetzen der Physik widersprach und sich dadurch auch von Ronaldos und Rooneys legendären Toren unterscheidet. Es gibt weltweit nur ein Dutzend Exzellenter, die so etwas auf dieser Bühne produzieren und reproduzieren können.

Salah ist ein Musterbeispiel des gläubigen Spielers mit Konversionspotential. Offen und sichtbar betet er vor dem Spiel und nach jedem Tor zu Allah. Daß er eine Topleistung mitten im Ramadan – den er auch einhalten wollte, obwohl es mehrere Fatwas gibt die Leistungssportler ausnehmen – bringen könne, war ohnehin unwahrscheinlich; schon deswegen hatte ich auf Sieg Real getippt. Kurz vor der Partie erfuhr man, daß er das Fasten doch für dieses Spiel unterbreche.

Nun hat Allah also entschieden, ihn stürzen zu lassen, ihm vielleicht sogar die Schulter gebrochen und damit die WM für ein ganzes fanatisches muslimisches Land – das natürlich ohne ihn eine Fußballnull ist – gefährdet. Allah hat gezeigt, wozu er fähig ist: er läßt Salah nicht nur 44 Tore schießen, sondern kann ihn im Spiel seines Lebens auch brechen. Muß es ihm nicht wie eine gerechte Strafe für das Fastenbrechen erscheinen?

Auch hier gilt: Allah ist der Größte.

Die letzten Helden

4 Gedanken zu “Gedanken zum CL Finale

  1. Pérégrinateur schreibt:

    Beim ICE-Unfall von Eschede interviewte ein Fernsehmensch Ersthelfer, er bekam auch einen nüchternen, gefassten Herrn vors Mikrophon, der ihm ganz sachlich die Umstände schilderte und dabei über den Eindruck, den die Szenerie auf ihn persönlich gemacht hatte, nur einen trockenen Satz etwa wie „Schön sah das nicht gerade aus“ äußerte.

    Später besann er sich – viele sind inzwischen verdorben durch Fernsehinterviews mit mehr oder weniger Betroffenen, bei denen die erste Frage des Reporters, die man zumindest in der geschnittenen Form des Interviews dann hört, gewöhnlich ist: „Wie haben Sie sich gefühlt?“ Also schob er im selben Tone wohlerzogen ein „“Wahrscheinlich bin ich jetzt ja eigentlich traumatisiert und sollte psychologisch betreut werden.“ Merke: Robuste Menschen sind unerwünscht. Man tut wohl heute besser daran, fleißig über die eigenen „Ängste“ zu reden.

    Dagegen Prinz Philip beim Besuch einer Nachsorgeeinrichtung für Soldaten mit posttraumatischem Belastungssyndrom. Er hörte sich alles höflich an, jedoch hoben sich mehr und mehr seine Augenbrauen und er meinte zuletzt in seiner bekannt nonchalanten Art: „Also wir haben früher einfach weitergeschossen.“

    Ich bin gespannt auf die menschliche Zuträglichkeit einer Gesellschaft, in der selbst die Einsatzkräfte bei jedem größeren Ereignis sich zuerst einmal in die Arme nehmen und gemeinsam ausgiebig flennen müssen.

    Im Selbstporträt, das La Rochefoucauld von sich gegeben hat, steht die folgende Passage:

    «Je suis peu sensible à la pitié, et je voudrais ne l’y être point du tout. Cependant il n’est rien que je ne fisse pour le soulagement d’une personne affligée, et je crois effectivement que l’on doit tout faire, jusques à lui témoigner même beaucoup de compassion de son mal, car les misérables sont si sots que cela leur fait le plus grand bien du monde; mais je tiens aussi qu’il faut se contenter d’en témoigner, et se garder soigneusement d’en avoir. C’est une passion qui n’est bonne à rien au-dedans d’une âme bien faite, qui ne sert qu’à affaiblir le coeur et qu’on doit laisser au peuple qui, n’exécutant jamais rien par raison, a besoin de passions pour le porter à faire les choses.»

    „Das Mitleid rührt mich nur wenig an und ich wünschte, es rührte mich gar nicht an. Doch gibt es nichts, was ich nicht zur Erleichterung einer bedrückten Person täte, und ich glaube tatsächlich, dass man alles tun sollte, bis dahin sogar, ihr viel Mitleid über ihr Elend zu bekunden, denn die Elenden sind so dumm, dass es die größte Wohltat auf der Welt für sie ist; aber ich halte zugleich dafür, dass man es bei der Bekundung belassen und sich sorgsam hüten sollte, es zu hegen. Das ist eine Leidenschaft, die in einer wohlgestalten Seele zu nichts taugt, die nur allein den Mut nimmt und die man dem Volk überlassen sollte, das Leidenschaften braucht, die es zum Handeln tragen, weil es nie aus Vernunftgründen etwas unternimmt.“

    Alle Übertreibung, alle Herrenmoral und alle Selbstüberhebung darin in Abschlag gebracht, bleibt doch, dass diese Haltung vorzüglich für die Tätigen taugt, die die Übel abwenden wollen, und nicht für die Leidenden, die nur allein den geselligen Trost suchen, fatalistisch in alles hineingeraten und nichts zu verhindern wissen.

    Ich habe inzwischen ausreichend Beerdigungen und ähnlich traurige Anlässe erlebt, die mir dieses gerade bei vielen Frauen beliebte Schwelgen im Gefühl verleidet haben, und augenscheinlich nicht nur mir. Eine Tante etwa, die ihren Mann nach langer Krankheit verlor, bangte darüber, dass nun natürlich eine Verwandten die Beerdigung besuchen würde, welche „so entsetzlich gut heulen“ könne. Also haben wir die Tränendrüsenselige geschickt von der Tante ferngehalten, und siehe, es tat ihr gut!

    Der Wörterbucheintrag von Ambrose Bierce zu dem Thema unterstellt noch Übleres bei manchen Mittrauernden:

    “ CONDOLE, v.i. To show that bereavement is a smaller evil than sympathy. ”

    Vielleicht kann man sich durch Weinerlichkeit hienieden Schätze im Himmel der gynomorphen Religionen erwerben. In dieser Welt aber ist nur tätige Hilfe hilfreich, und wenn man die nicht leisten kann, ist bewusste Zurückhaltung oft das Beste.

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    • „Warum das »Ich« verdoppeln! – Unsere eigenen Erlebnisse mit dem Auge ansehen, mit dem wir sie anzusehen pflegen, wenn es die Erlebnisse anderer sind, – dies beruhigt sehr und ist eine ratsame Medizin. Dagegen die Erlebnisse anderer so ansehen und aufnehmen, wie als ob sie die unseren wären – die Forderung einer Philosophie des Mitleidens –, dies würde uns zugrunde richten, und in sehr kurzer Zeit: man mache doch nur den Versuch damit und phantasiere nicht länger! Gewiß ist außerdem jene erste Maxime der Vernunft und dem guten Willen zur Vernünftigkeit gemäßer, denn wir urteilen über den Wert und Sinn eines Ereignisses objektiver, wenn es an anderen hervortritt und nicht an uns: zum Beispiel über den Wert eines Sterbefalls, eines Geldverlustes, einer Verleumdung. Mitleiden als Prinzip des Handelns mit der Forderung: leide so an dem Übel des andern, wie er selber leidet, brächte dagegen mit sich, daß der Ich-Gesichtspunkt, mit seiner Übertreibung und Ausschweifung, auch noch der Gesichtspunkt des andern, des Mitleidenden, werden müßte: so daß wir an unserem Ich und am Ich des andern zugleich zu leiden hätten und uns derart freiwillig mit einer doppelten Unvernunft beschwerten, anstatt die Last der eigenen so gering wie möglich zu machen.“ (Nietzsche, Morgenröthe, 137.)

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  2. Wenn man das Interview von Karius und sein Verhalten nach dem Spiel sieht, kommt noch ein anderer Gedanke. Die Presse feiert ihn als tapfer und mutig – ich sehe in seinen Demutsgesten aber etwas anderes: Erleichterung. Die läßt sich evtl. mit jenem Phänomen erklären, das man „Mertesacker-Syndrom“ oder „Babbel-Effekt“ nennen könnte. Diese hatten jüngst eingestanden, in entscheidenden Verlierersituationen Erleichterung verspürt zu haben. Babbel, als das unvergeßliche Tor in der Verlängerung gegen ManUnited fiel – ein unverlierbares Spiel; Mertesacker, der nach dem WM-Aus in Deutschland gegen Italien dachte: „Ich weiß es noch, als wäre es heute. Ich dachte nur: Es ist vorbei, es ist vorbei. Endlich ist es vorbei.“

    In diesem Zusammenhang auch das von Kahn kritisierte öffentliche Weinen. Karius konnte nicht weinen, tat aber so, fühlte sich gedrängt „Emotionen“ und Reue zu zeigen. Das sind Zeichen eines Paradigmenwechsels, einer Feminisierung auch des Leistungssports. Früher wäre das verpönt gewesen, heute ist es fast Pflicht: Männer müssen weinen!

    Und natürlich springt die linke Presse reflexartig an und maßregelt Kahn für diese „Unmenschlichkeit“. Sie will damit disziplinieren, Tabus schaffen, das linke Narrativ durchsetzen.

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