Wiedersehen im Widerstand

Weit zurück in der Geschichte dieses Blogs liegt dieser Artikel: Gut zu wissen.

Darin findet sich eine Liste exklusiver Namen, die sich im Herbst 2015 durch kritische Kommentare – damals Mangelware, Sensation und tapfer – in jenes Lager geschlagen hatten, in dem auch ich und wohl die Mehrheit der Leser gelandet war. Das war und ist mir noch immer wichtig, denn der Zweifel, man könne irren und die permanente Arbeit daran, diesen Zweifel zu nähren, bleibt.

Nun wurde diese Liste durch einen ganz wichtigen Namen verlängert. Durch viele sogar – sie stehen auf der „umstrittenen“ „Gemeinsamen Erklärung“ Intellektueller, die da lautet: „Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird“.

Sofern in der Presse behandelt, pickt man sich die „rechten“ Namen heraus – Lichtmesz, Sommerfeld etc. – und will damit die ganze Liste in den Dreck ziehen. Wir wissen hingegen, daß auch Lichtmesz und Sommerfeld kein Dreck sind, sondern ernstzunehmende Köpfe.

Aber nicht jeder, der sich auf dieser Liste verewigt hat, muß mit jedem anderen in allen Fragen übereinstimmen, sondern nur die benannte Sorge teilen.

Nun fand ich jedenfalls einen Namen darauf, der für mein Leben wichtig war, und ihn hier zu sehen, bereitet mir Freude.

Ich war Student der Philosophie, hatte bereits einen anderen Studiengang hinter mir und ging wie besessen in Leipzig in die „Deutsche Bücherei“. Dort fiel mir ein junger Mann auf, der nach dem immer gleichen Ritual an der Theke seinen Stapel Bücher abholte, an seinen Stammplatz schlurfte und las, und las, scheinbar in nicht endender Konzentration.

Er las vor allem Derrida. Derrida war damals vielen eine große Befreiung. Mir war er zu jener Zeit noch ein Buch mit sieben Siegeln. Irgendwann mußte es geöffnet werden. Ich sprach ihn, den Studierenden (hier ist das Wort an der richtigen Stelle), an und nun begann eine Reihe von Gesprächen in der Kantine oder auf der Außentreppe, die meinen Werdegang beeinflußten. Er erschloß mir im Grunde genommen die Welt der Philosophie. Vor allem beeindruckte mich seine Ernsthaftigkeit. Und sein Zigarettenkonsum.

Wir entdeckten, daß wir Kommilitonen waren und schrieben uns beide zu einem Husserl-Seminar ein. Das sollte ein Angelpunkt in meinem Leben werden. Selbstbewußt, mit ein bißchen schneller Husserl-Lektüre ging ich hin und wurde Zeuge eines zweitägigen Schlagabtausches zwischen der Lehrkraft – sie ist heute eine anerkannte Foucault-Expertin, sie las als erste mein erstes Buch – und meinem Bekannten auf höchstem Niveau. Ich verstand nur Bahnhof. Und begriff, daß ich von Husserl gar nichts begriffen hatte. Niedergeschlagen und desillusioniert ging ich nach Hause, konnte nicht schlafen. Der Traum von der Philosophie schien ausgeträumt. Ich war zu doof dafür. Das “Risiko primären Philosophierens“ (Tellkamp).

Am nächsten Tag traf ich ihn wieder in der DB, wo er, als sei nichts geschehen, an seinem Tisch saß und Derrida las. „Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie“ – das war Derridas Dissertation und über die wolle er jetzt eine Arbeit schreiben.

Da sagte ich mir: Die letzte Chance. Du studierst jetzt die „Logischen Untersuchungen“ und wenn du daran scheiterst, dann ist die Philosophie Geschichte für dich. Übrigens brauchte Sartre drei Jahre für dieses Buch.

Ich hab’s getan. Gelesen und wieder gelesen, jede Seite, jede Zeile, manchmal jedes Wort. Ein halbes Jahr nur Husserl. Ein fast mystisches Erlebnis. Langsam ging mir Husserls ganze Genialität auf, wie er sich selbst immer und immer wieder umwälzt und neu denkt und immer, wenn die Frage, die er sich stellte, beantwortet schien, dann fiel ihm noch eine Lücke oder ein Gegenargument auf und er begann von Neuem, ein permanentes Einkreisen und Ausschließen. Sein ganzes Leben lang. Es folgten die „Ideen zu einer reinen Phänomenologie“ und die „Cartesianischen Meditationen“ und schließlich „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“ sowie „Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“. Und immer wieder alles umgewälzt und neu gedacht – das hat geformt.

Einmal sagte Silvio mir: „Dialektik ist wie Gift – wer es einmal im Kopf hat, bekommt es nicht mehr heraus. Wie Lyotard.“ Ich erschrak. „Marxismus“, das klang aus seinem Mund wie eine ansteckende Krankheit. Ich hatte meine marxistische Herkunft immer verschwiegen. Er hatte recht. Und ein andermal erzählte er, wie er mit Freunden Heidegger-Kassetten hörte, die „Stimme des Meisters“ in Séancen wachrief, und nachts erschien im Husserl im Traum und stellte alle Stühle um.

Ein paar Jahre später besuchte Heidegger mich auch im Traum, im Wohnzimmer meiner Eltern, vor der roten Blumentapete, trank Mamas Kaffee und aß ihren Kuchen, legte seinen Arm um meine Schultern und flüsterte mir einige seiner tiefsten Geheimnisse ins Ohr. Ich war angekommen.

Ohne ihn, einen der klügsten Menschen, dem ich je begegnet bin, wäre es nie so weit gekommen. Abends arbeitete er in einem Behindertenheim, um sich Geld zu verdienen.

Und jetzt steht er auf der Liste – einer von drei- oder vierhundert (mittlerweile über tausend). Und ich bin froh und stolz! Der Kreis schließt sich!   

PS: Man hat mich gefragt, weshalb ich mich nicht eingetragen habe. Ich wüßte gar nicht als was! So viel geballte Kompetenz auf einem Haufen – Respekt!

6 Gedanken zu “Wiedersehen im Widerstand

  1. Leonore schreibt:

    Blog-Eintrag, Kommentare und Antworten wieder mal ein schönes Erlebnis.

    Aber inzwischen – seit Umwandlung der Unterschriftenlisten in eine Petition – werden Sie doch wohl Ihre (sowieso völlig unangebrachte) Bescheidenheit überwunden und unterschrieben haben, oder?

    Falls nicht – NOCH geht es unter:

    http://www.erklaerung2018.de

    Vera Lengsfeld gibt auf ihrer Webseite bekannt, daß inzwischen mehr als 100 000 Menschen unterschrieben haben. (Ich hoffe natürlich auf allermindestens eine Million.)

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    • Das hat die Situation sofort geändert. Ich dürfte um die 30 000 sein.

      zu: „Aber nichts dagegen zu tun, nicht zu schreiben, zu demonstrieren, Petitionen zu verfassen oder zu unterschreiben, also nicht die Bürger wachzurütteln zu versuchen, obwohl man diese bittere Wahrheit erkannt hat und VIELLEICHT noch eine kleine Chance besteht, das Ruder herumzuwerfen – das ist keine Alternative!“

      Andererseits ist der Zug jetzt in Fahrt, es gibt genügend Stimmen und es kommen immer mehr hinzu, das Gefühl der Dringlichkeit (des Aufrüttelns) hat etwas nachgelassen – da darf man vielleicht auch wieder an die eigene Zukunftsplanung denken?

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  2. Um Ihre philosophische (Aus-) Bildung beneide ich Sie ja innigst. Ich hatte selbst auch Philosophie studieren wollen, es dann aber – ein wenig auch aus Angst vor den obligatorischen Logik-Klausuren – gelassen und mich mehr auf die Geschichte geworfen. Die Verbindung von beidem (in die Richtung Ricoeur, Danto) wäre das, was mich heute interessieren würde, aber derzeit habe ich für philosophische Lektüre nicht die Muße und innere Ruhe. Dieses genaue Nachdenken, diese sorgfältige Problembehandlung, die horizonterweiternde Geistesarbeit, die findet man ja eigentlich nur in der Philosophie, bzw. in der Theorie. Immerhin hat mir da Luhmann später einiges bieten können. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht für philosophische Werke zu alt bin, ob die geistige Spannkraft da noch reicht.
    Die Phänomenologie, so las ich es mal, sei die eigentlich wichtigste philosophische Denkrichtung des 20. Jahrhunderts – und ich habe nur Husserls Encyclopedia-Eintrag in einem Husserl-Reclamheft gelesen … Fragte man mich, was ich an Denkerwerken dieses Jahrhunderts noch lesen wollte, so wären es Husserl, Kelsens „Reine Rechtslehre“ und Luhmanns „Gesellschaft“. Aber Husserl: Was? Haben Sie einen Ratschlag, was hier als „Einstieg“ geeignet wäre?

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    • Der Encyclopaedia-Britannica Artikel ist schon mal ein guter Einstieg. Überhaupt müßte man das Reclam-Heft empfehlen, wenn es nicht so aberwitzig wäre, Husserl in einem Schmöckerheft mit Minischrift lesen zu müssen.

      Vielleicht sollte man aus ästhetischen Gründen Sloterdijks „Philosophie Jetzt“-Band vertrauen (kenne ich aber nicht).

      Husserl selbst: Logische Untersuchungen Band 1 – das ist der Psychologismus-Text. Wahrscheinlich sein einfachster.
      „Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie“ ist heute wieder aktuell und fällt aus den rein phänomenologischen Arbeiten heraus. Auch eine gute Stilübung.
      „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins.“ – relativ gut faßlich, weil der Gegenstand jedermann nachvollziehbar ist.

      Mir hat sehr geholfen das frühe Werk Lyotards: „Die Phänomenologie“ und auch Rudolf Bernet,Iso Kern: „Husserl Darstellung seines Denkens“ ist noch lesbar oder: Manfred Sommer: „Lebenswelt und Zeitbewußtsein“

      Wie man es dreht und wendet: Es ist viel Arbeit und fordert Konzentration, immer! Wenn Sie sagen, Sie wollen was „Schnelles“, dann nehmen sie den Lyotard – der natürlich durch das Individuum gebrochen ist. Aber die ganze Begrifflichkeit und Denkbewegung ist doch recht schlüssig entfaltet.

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    • Pérégrinateur schreibt:

      Zu Luhmann. Nachdem ich Bezüge auf ihn fand gerade bei Autoren, die ich schätze (etwa Sieferle, bei dem der Begriff des Systemischen für mich noch der Erhellung bedarf; Lübberding, ein freier Autor der FAZ, den man dort seltsamerweise nur Artikel über Talkshows schreiben lässt, obwohl er erkennbar mehr drauf hat als irgend so ein konformistischer Zweitlaberer wie Hütt) und eine Empfehlung für „Soziale Systeme“ von ihm bekam, habe ich mich jüngst daran versucht. Luhmann behandelt seinen Gegenstand jedoch mit einer Methode, die ich „sehr langsam kreisende Annäherung im Nebel“ nennen würde. Da kommen dann etwa anfangs solche seinen Gegenstand bestimmende Sätze vor: „Von System im allgemeinen kann man sprechen, wenn man Merkmale vor Augen hat, deren Entfallen den Charakter eines Gegenstandes als System in Frage stellen würde. “ Dergleichen womöglich nur zirkulärer Schwulst erweckt bei mir den Eindruck, ich könnte es da sogar mit einem Nebelwerfer zu tun haben, der durch Obskurität Geltung erlangt hat. Inzwischen liegt das Buch zugeklappt in der Ecke.

      Wieso schreiben deutsche Autoren gerne so undurchsichtig? Ich habe den Verdacht, viele wollen gar nicht verstanden werden, sondern lieber als schwierige Autoren Achtung erringen. Wenn ich das etwa mit David Hume vergleiche, bei dem ich schon durch die Sprache sehr behindert sein müsste … Mir scheint es gerade für Einführungen eine bessere Methode zu sein, die leider oft allzu sehr im Hintergrund gehaltene, gewöhnlich sehr verständliche Ausgangsfrage voranzustellen und dann die Lösungsansätze, die dabei abgetroffenen Hindernisse und die Modifikationen der Lösungsansätze zu beschreiben. Ein paar solcher Schneisen in den Urwald getrieben, und schon wird er durchsichtig.

      Ich kenne die andere, die hermetische Darstellungsmethode etwa auch aus der Mathematik. Schlagen sie etwa eine deutschsprachige Einführung in die Maßtheorie auf, so klappen sie sie nach spätestens 10 Seiten gewöhnlich wieder zu, weil sie von der erreichten Theorie her darstellt und nicht vom Problem her. Man möchte ein (Flächen-, Volumen- usw.)Maß auf Punktmengen finden mit möglichst reichhaltigen Eigenschaften wie Translationsinvarianz, Skaleninvarianz, Verträglichkeit mit auch unendlichen Mengenzerlegungen usw., tunlichst für alle Punktmengen. Aber das geht eben nicht, wie man anhand von Gegenbeispielen zeigen kann. Also schneidet man eben die Anforderungen zurück. Wenn man aber die Hindernisse meidet, ohne sie auch nur zu benennen, wird der Weg rätselhaft.

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      • „Wieso schreiben deutsche Autoren gerne so undurchsichtig?“

        Weil sie es können – wäre eine flash-Antwort. Da ist man wieder beim Thema Sprache und Denken … kann auch mißbraucht werden.

        Ich würde hier noch die Unterscheidung zwischen Autoren, die etwas zu sagen haben und „undurchsichtig“ sind (die Materie kann selbst undurchsichtig sein) und solchen, die Undurchsichtigkeit fingieren, um als schwierig zu gelten.

        Typus 1: Kant, Hegel, Marx, Husserl, Heidegger, Luhmann …
        Typus 2: Dath, Niemeyer und ein Großteil der Akademiker, also der dritten Reihe abwärts.

        dazwischen Grenzfälle (zeitspezifisch relevant): Bloch, Marcuse, Habermas …

        außen vor die Sprachkünstler, Typus Nietzsche, Sloterdijk …

        ebenfalls außen vor, da sprachobjektivierend: Wittgenstein und die Logiker, Analytiker

        und die Vereinfacher: Fromm, Precht, Safranski, Welzer, Wetz …

        (Gibt es natürlich auch in anderen Sprachen: Lacan, Althusser …)

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