Plötzlich ist die so sicher geglaubte Mehrheit zu den Parlamentswahlen am 8. April für Viktor Orbán und den Fidesz in Gefahr. Die Ursachen sind mannigfaltig. Hinter allen liegt die schlechte Stimmung im Volk und der resignierte Wille, Orbán loszuwerden.
Nun aber hat die Resignation ein Ziel bekommen. Die sensationelle Bürgermeister-Wahl im Provinzstädtchen Hódmezövásárhely hat einen Präzedenzfall geschaffen, der den Ausweg andeutet. Es müssen nur die rechten Koalitionen geschlossen werden, um zumindest dem jeweiligen Fidesz-Vertreter die Direktkandidatur des Wahlkreises zu vermasseln und wenn das in mindestens 40 von 106 Wahlkreisen gelingt, dann ist die parlamentarische Mehrheit des Fidesz dahin. Es ist, in der Kürze der Zeit, am ehesten ein logistisches Problem, dies noch zu schaffen. (Zuletzt signalisierte Jobbik mehrfach, keine Koalition eingehen zu wollen.)
Hódmezövásárhely ist auch aus anderem Grund ein Name, den man auswendig lernen sollte. Dort wurde die allgegenwärtige Korruption im Lande sinnfällig. Dort flog ein übler Korruptionsskandal auf, bei dem Millionen an europäischen Geldern von einer Firma veruntreut wurden, deren Hauptinhaber Orbáns Schwiegersohn ist. Was ohnehin schon alle wußten und eigentlich keines Beweises bedurfte, ist nun evident und greifbar und Orbán ist höchstpersönlich involviert.
Die dritte Ursache für Orbáns rasanten Abstieg dürfte sein unsinniger Wahlkampf sein, dem ich mich nun anhand eines Beispiels widmen möchte. Es ist jedenfalls auffällig, daß auch hier in der Provinz plötzlich der Fidesz-Kandidat die Türklinken putzt und in allen lokalen Medien vermehrt auftaucht. Auch die Ausfallstraßen sind nahezu ausschließlich mit Fidesz gepflastert – hier gibt es offenbar deutliche Ressourcenunterschiede.
Damit wirbt der Fidesz nicht um seine 2,3 Millionen Stammwähler, sondern um die restlichen drei Millionen, die erfahrungsgemäß zur Wahl gehen. Weitere drei Millionen bleiben in der Regel zu Hause – vielleicht darf man diesmal eine etwas höhere Wahlbeteiligung erwarten, wie Hódmezövásárhely gelehrt hat.
Anstatt die zahlreichen Probleme des Landes im Wahlkampf zu thematisieren, setzt Orbán alles auf das Migrationsnarrativ im Allgemeinen und auf eine Anti-Soros-Kampagne im Besonderen.
Das ganze Land ist mit „Stop-Soros“ –Plakaten bedeckt. Noch letzte Woche flatterte obiges Wahlblatt in unseren Briefkasten. Zwar hat man die Strategie nach der Schlappe von Hódmezövásárhely abrupt geändert, aber der Schaden ist angerichtet. Wir sehen vier Vertreter alternativer Parteien, die, so will uns das Blatt sagen, alle die Grenze öffnen wollen – „Zusammen reißen wir die Grenze nieder“ – und dahinter stecke in jedem Fall Soros.
Jedem wird ein Zitat aus der Vergangenheit zugeordnet, oft viele Jahre zurückliegend und aus dem Kontext gerissen, um den Unsinn zu beweisen. Tatsächlich dürfte es keine einzige relevante Partei geben, die die Grenze öffnen möchte – es wäre bei einer Unterstützung von über 90% auch ihr politisches Ende.
Selbst Gabor Vona von der rechten Jobbik wird mit dem Satz zitiert „Für mich ist der Islam der letzte Hoffnungsschimmer“. Das ist ein interessanter Satz aus dem Munde eines weit rechts stehenden Politikers, der die größte Konkurrenzpartei anführt, über den man nachdenken kann. Gesagt wurde er 2013 in der Türkei – damals war Jobbik eine andere Partei. Nichts von alldem stimmt mehr. Und so bei allen anderen …
Die Menschen in Ungarn haben davon die Nase voll. Man fühlt sich verschaukelt und für dumm verkauft und das ist etwas, das man in Ungarn nicht verzeiht. Man reagiert resigniert – das ist typisch ungarisch – oder wütend – auch das ist typisch. Es ist nicht auszuschließen, daß viele Wähler sich dafür rächen werden.
Und Soros? Ist für viele nicht interessant. Mit den Beschwerlichkeiten des alltäglichen Lebens hat er nichts zu tun und kein Mensch glaubt an das Bild einer allumfassenden Macht und Verschwörung.
Orbán war sicherlich ein politisches Genie oder doch zumindest Talent. Nach acht Jahren Machtausübung ist ihm offenbar der Kontakt zur Realität abhanden gekommen – kein Einzelfall, wie wir wissen.
siehe auch:
Naivität politischer Parteilichkeit
Die Zusammenhänge erklärt: Adenauer-Stiftung: Ungarn vor den Parlamentswahlen
Ein Gedanke zu “Orbáns Wahlkampfdesaster”