Ist Sterben noch modern?

I’m not planning to die. Ray Kurzweil

Schlägt man ein beliebiges Werk zur Spiel- oder Kulturgeschichte des Schachs auf, so wird man mit großer Wahrscheinlichkeit die Reiskornlegende finden; der Kundige kann sie schon nicht mehr hören, die Erzählung vom klugen Bauer/Wesir/Weisen/Zauberer, der den König/Sultan zu einer Schachpartie überredet/das Schachspiel erfand/einen Krieg damit abwendete und den Herrscher derart damit begeisterte, daß dieser ihm einen hohen Lohn versprach. Der Weise mimt den Bescheidenen und erbittet sich lediglich ein Reis/Weizenkorn auf dem ersten der 64 Felder, zwei auf dem zweiten, vier auf dem dritten, acht auf dem vierten und so fort, immer die jeweils doppelte Menge des vorherigen Feldes. Der Machthaber wird anfangs von der Genügsamkeit des Weisen überrascht, muß aber bald feststellen, daß alles Korn der Welt nicht genügte, dem Wunsch nachzukommen, und wird durch dieses kathartische Erlebnis geheilt und ein besserer Mensch.

Gern nutzen die Schachpropagandisten (und selbst die Islampropagandisten) das beeindruckende Bild, um selbst etwas vom Glanz der Weisheit für sich zu beanspruchen oder aber die Quasiunendlichkeit und damit die Unsterblichkeit ihres „Königlichen Spiels“ zu beweisen. Aus den mythischen Tiefen sei es aufgetaucht und bis ans Ende des Universums wird es leben – wenn schon nicht als Spiel, so doch in seiner kosmischen Dimension. Nonchalant übersieht man dabei, daß die Moral der Geschichte vollkommen schachfrei ist, vor allem aber wird durch diesen Reduktionismus die wahre Tiefe der Legende verschleiert. Archetypische Legenden zeichnen sich nun dadurch aus, die Zeiten zu überstehen und jeweils einen neuen, meist tieferen Sinn zu erlangen. Man muß sie nur immer und immer wieder erzählen, sie in neue Kontexte stellen, um ihrem wahren Gehalte näher zu kommen.

Eine dieser Neuerzählungen findet sich in einem Buch aus dem Jahre 2005 mit dem spannenden und absichtlich doppeldeutigen Titel „Radical Evolution“ des nordamerikanischen Journalisten Joel Garreau[1]. Es nimmt im Übrigen zum Schach keinen weiteren Bezug, die darin beschriebenen Vorgänge werden aber – ganz nebenbei – auch für das Brettspiel nicht folgenlos bleiben, sie werden nämlich, wenn sich auch nur die Hälfte dessen bewahrheiten sollte, was es ankündigt, auf alles, was wir Menschen als Realität kennen, die radikalsten Folgen haben.

Um sein Argument deutlich zu machen, gestattet sich Garreau ein paar kleinere erzählerische Freiheiten. Den ganzen Schachkram läßt er konsequent beiseite, läßt stattdessen einen Bauern die Königstochter retten und den König sich zum Versprechen verleiten, dem armen Landmann jeden Wunsch zu erfüllen, und sei es auch ein Zehntel des ganzen Reiches (ein kleiner Lapsus, denn wie wir wissen, wird der Bauer eher das Zehnfache des Reiches einfordern). „The peasant however – who was not as simple as he seemed – asked only for a chessboard and some corn.” Morgen ein Korn aufs erste Feld, übermorgen zwei aufs zweite … wir kennen diesen Teil der Geschichte.

Der König war’s zufrieden und noch am zehnten Tag ward es kaum genug Korn, um einen „porridge“ zu machen, aber schon zehn Tage darauf wurde das Problem deutlich: der König schuldete 524 288 Körner. Am dreißigsten Tag schuldet der König eine halbe Milliarde Korn, fährt Garreau fort, genau genommen 536870912, alle Lasttiere, alle Mann waren damit beschäftigt, Korn herbeizukarren. Die Flotte wurde eingeschaltet, aber nun mußte dem König doch bewußt werden, wie unmöglich das Unterfangen wurde, und dabei war noch nicht einmal die Hälfte des Bretts erreicht. Tag vierzig würde 500 Milliarden Körner bedeuten und weiter braucht Garreau nicht zu zählen, um seinen „point“ deutlich zu machen[2]:

It is just such a period in which we now find ourselves.

Cut. Neuer Abschnitt. Szenenwechsel. Santa Clara Valley 1938, wo zwei junge Stanford Akademiker namens Hewlett und Packard eine technologische Fabrik gründeten. Heute kennt man die Gegend als Silicon Valley. Dort nahm eine Entwicklung ihren langsamen Anfang, die sich zusehends beschleunigte, so auffällig jedenfalls beschleunigte, daß schon in den 70er Jahren ein gewisser Moore, Gründer der Firma „Intel“, eine Regel aufstellte, die bald als „Moores Gesetz“ bekannt wurde, nämlich daß sich die Komplexität der Halbleiterkomponenten mit jedem Jahr verdoppeln würde, wobei die Leistung der alten Generation die Leistung der neuen anschiebt.

Es gab danach ein paar zeitliche Korrekturen und später mußte der quantitative Umfang erweitert werden, aber heute darf man von der Faustregel ausgehen, daß sich der technische Fortschritt alle 18 Monate verdoppelt oder anders ausgedrückt, daß sich die Geschwindigkeit der Rechenprozesse verdoppelt, oder noch anders übersetzt, daß sich die Kosten für bestimmte Parameter alle 18 Monate halbieren. „The power of information technology will double every 18 months, for as far as the eye can see.

Achtzehn Monate entsprechen einem Feld auf dem Schachbrett – was wir vor uns haben ist eine geometrische Progression[3], ein exponentielles Wachstum[4], „the curve“, die Kurve. In Computerschachtermini übersetzt heißt das: „The practical outcome of this juggernaut is that IBM is expecting to fire up a machine around the time this book is published (2005). Called Blue Gene, it is 1000 times more powerful than Deep Blue, the machine that beat world chess champion Garry Kasparov. It is designed to handle 1,000,000,000,000,000 instructions per second.[5]

Diese unglaubliche Rechenkraft wird verfügbar sein, um noch stärkere Rechenkraft zu kreieren – das ist die Crux der computertechnologischen Entwicklung und das ist der wahre Sinn der Reiskornsaga. Es ist die Urlegende vom exponentiellen Wachstum und ihre Moral ist eindeutig: Er ist vom Menschen ab einer bestimmten Größe nicht mehr zu meistern. Goethe hätte gesagt: „die ich rief die Geister, werd ich nun nicht los“; man kann es zeitgemäßer auch mit Donald Duck ausdrücken: wir würden im Korn ertrinken und ersticken, wenn der Prozeß nicht gestoppt oder kanalisiert werden kann.

Als wissenschaftliche Treibkraft hinter den Beschleunigungsprozessen, die im Moment des Abhebens zu sein scheinen, muß die unheilige Allianz der GRIN-Technologien gelten + Kapital: Genetik, Robotik, Information, Nanotechnik: „bolder, better, stronger, faster, smarter“, wie es ein US-Militär ausdrückte, der an Forschungen beteiligt ist, den nimmermüden, bedürfnislosen, schmerz- und verletzungsresistenten und sogar selbstheilenden Supersoldaten zu entwickeln. Tatsächlich geht ein Großteil der Entwicklung auf militärische Interessen zurück, in den USA ist die DARPA (Defence Advanced Research Projects Agency) treibendes Element, u. a. am 24-Stunden-Soldaten und dessen unsichtbarer, unzerstörbarer, unfehlbarer … Armatur arbeitend.

Das beunruhigt die Beschleunigungsadepten nur peripher, denn erstens gehen sie davon aus, daß diese Entwicklungen unumgehbar sind und zweitens leben viele von ihnen noch immer oder gerade jetzt in einer rosa Welt der unbegrenzten Möglichkeiten. Fragt man sie, weshalb sie forschen, was sie antreibt, so hört man oft was von „fun“ und „what you don’t get is much of a sense of introspection“ (42f.).

Philosophische und moralische Überlegungen spielen in dieser hyperanthropozentrischen Welt ebenso wenig eine Rolle – die Theorien sind viel zu langsam und werden vom Fortschritt permanent antiquarisiert – wie die Auswirkungen auf nichtmenschliches Leben und unbelebtes Sein, auf das, was Lovelock „Gaia“ nannte. Wer das alles nicht glaubt, dem sei der faszinierend-schockierende Dreiteiler „Visions of the Future“ oder ein beliebiger Vortrag von Michio Kaku zu empfehlen. Wer dort die jungen Wilden mit leuchtenden Augen von Unsterblichkeit, Weltraumfahrstühlen, Nanocomputern in der Blutbahn, nachwachsenden Organen und Gliedern, Transhumanismus, genetisch verbesserten (enhanced) Menschen, Telepathie und hundert anderen „Monstrositäten“ schwärmen hört, der begreift, was die Stunde geschlagen hat. Was Kurzweil wirklich sagen will, ist: „I’m planning not to die“.

Ob wissenschaftlich-technischer Fortschritt wertfrei ist, ob die Waffe oder der Schütze tötet, sei hier dahingestellt, worauf Garreau mit der Kornlegende hinaus will, ist den Punkt des Umschlagens deutlich zu machen. Demnach befänden wir uns jetzt etwa an der siebenunddreißigsten Verdoppelung, etwa dort jedenfalls, wo die Kurve beginnt, in die Vertikale einzutreten und wo dem König die Absurdität seines Versprechens deutlich werden mußte.

Waren Handys vor 25 Jahren noch unhandlich wie Kastenbrote, so sind sie heute ultraleicht und längst schon vollwertige Computer geworden, mit einer Rechenkraft, die den alten 386er um ein Unvorstellbares übersteigt. Die Entwicklung von der Wachsrolle über die Schallplatte und das Magnetband bis hin zur CD und MP3-Datei, die nun durch MPEG-Verfahren ersetzt wird, macht das Problem deutlich (Photoplatte, Film, Bilddatei; Lochkarte, Festplatte, Flash-Speicher – Cloud etc.): die Medien werden kleiner und inhaltsstärker und virtualisieren sich schließlich, verlieren ihre Handgreiflichkeit. Die Entwicklung hebt ab und dort, wo die Kurve zum Steilflug einschwenkt, dort erwartet uns die Singularität, der Zeitort, an dem die Geschichte mit der Zukunft nicht mehr zusammenhängt, „a point where our everyday world stopps making sense. … The sheer magnitude of each doubling becomes unfathomable.

Stimmt dies, so ließen sich daraus drei Szenarien entwerfen. Heaven, Hell und Prevail (beherrschen, vorankommen). Sehen die einen die Menschheit am Übergang zum irdischen Paradies, in dem nach bester Sience-fiction-Manier alle Probleme gelöst werden können, die Menschen, genetisch und technisch verbessert, länger und zufriedener leben werden, von Armut, Hunger, Krankheit befreit, mit ungeahnten Möglichkeiten, so glauben die anderen, daß es zur globalen Katastrophe führen muß und wenn nicht, dann doch zu einem diktatorischen System, in dem die Gewinner der Entwicklung den Verlierern ein Regime aufoktroyieren, wie selbst Orwell und Huxley es sich nicht haben träumen lassen. Die dritte Fraktion glaubt nun auch in Zukunft an ein „Durchwurschteln“, so wie es den Menschen schon immer eigen gewesen sei. Die gemeinsame Anstrengung vieler gegensätzlicher Energien führt stets zu etwas leicht Unerwartetem, aber doch Aushaltbarem und Steuerbarem.

Schließlich kann man den Gedanken der Kurve und der Singularität gänzlich in Frage stellen; wenn sich z.B. die Verdopplung der Eisenbahnlinien zu Beginn des Jahrhunderts bis heute fortgesetzt hätte, so wäre die ganze Erde heute mit mehreren Schichten Stahlschienen bedeckt, wenn sich ein Bakterium alle 20 Minuten grenzenlos teilte, dann würde die Masse der Bakterien nach nur zwei Tagen die der Erde übersteigen usw. – irgendwo gibt es also ein Limit, irgendwo sind die rein physischen/physikalischen Möglichkeiten oder Notwendigkeiten für eine bestimmte Entwicklung ausgeschöpft[6]. Die gesamte Diskussion bekäme selbstverständlich auch dann akademischen Charakter, sollte eine natürliches oder kosmisches Desaster globalen Ausmaßes, wahrscheinlicher noch eine selbstgemachte ökologische, ökonomische, politische, soziale oder kriegerische Katastrophe die Menschheit erwarten.

Wie dem auch sei, das Moore’sche Gesetz wird wohl noch ein paar Umdrehungen machen und diese werden ausreichen, das Bild der Welt noch radikaler zu ändern als es der Menschheit bisher gelungen ist. Mag sein, daß die bereits geschaffenen Probleme regelrecht zur technischen Bewältigung zwingen, mag sein, daß sie gerade die radikale technische Abrüstung verlangten, sie lassen auf jeden Fall nicht nur die tiefe Weisheit der Schachbrettlegende begreifen, sondern auch die einer anderen archetypischen: der alten taoistischen (die Erklärung dazu folgt später).

siehe auch: Warum das Ende naht

Quellen:
Joel Garreau: Radical Evolution: The Promise and Peril of Enhancing Our Minds, Our Bodies — And What It Means to Be Human. New York 2005
http://www.garreau.com/
Kampf um die Reistafel. Walt Disney’s Lustiges Taschenbuch. LTB 66. Berlin 2001
Empfohlene Lektüren:
James Lovelock: The Revenge of Gaia. London 2006 (Der weltbekannte Vater der Gaia-Hypothese liefert ein düsteres Bild unserer Zukunft: die ökologischen Katastrophen lassen sich nicht mehr verhindern, nur noch eindämmen und kanalisieren und nur mithilfe modernster Technik wie der Atomenergie und synthetischen Nahrungsmitteln.)
Ray Kurzweil: The Singularity Is Near: When Humans Transcend Biology. 2006 (Erfinder und Zukunftsforscher Kurzweil vertritt entschieden das Heaven-Szenario. Ein Einblick, was alles möglich sein könnte und was zum Teil auch schon längst realisiert wird. Wie die nahezu ersehnte Singularität aber zu meistern sein wird, davon weiß Kurzweil nichts Substantielles zu sagen: Ein Sprung ins Unbekannte, mit den besten Hoffnungen)
Rudolf Bahro: Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Berlin 1987 (Noch immer der radikalste Ansatz für einen kontrollierten Ausstieg aus der „Exterminationslogik“ der „Megamaschine“ – nach 20 Jahren freilich fraglich, ob realisierbar.)
Tristan Garcia: Das intensive Leben. Eine moderne Obsession. Berlin 2017 (Garcia versucht mit ausgleichender Ethik den Spagat zwischen affirmativer Intensität und schierem Überlebenkönnen; dabei greift er neben Notwendigkeit der technischen Vervollkommnung auch auf die alten „Strategien“ der Weisheit, Heil und Erlösung zurück. Die Lage ist aussichtslos, wir müssen wählen und können es zugleich nicht …)
Thomas Wagner: Robokratie: Google, das Silicon Valley und der Mensch als Auslaufmodell (Ja, das ist der „Angstmacher“-Wagner. Hier beschreibt er die fatale Vernetzung von Technik und Kommerz im Silicon Valley und entwirft eine Weltübernahmeoption.)
Simon de Beauvoir: Alle Menschen sind sterblich. (1946) (Nach wie vor wirksames Gegengift zu allen Langlebigkeits- und Unsterblichkeitsphantasien)
Die fast schon klassischen Arbeiten Baudrillards, Virilios und Lyotards zur Beschleunigung und Virtualisierung in der Postmoderne, deren Weitsichtigkeit (bei aller Fehlerhaftigkeit) erst heute richtig offenbar wird.
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Joel_Garreau
[2] Die Endsumme lautet: 18.446.744.073.709.551.616, in Worten: 18 Trillionen, 446744 Billionen, 73 Milliarden, 709 Millionen, 551 Tausend, 6 Hundert und 16 Körner. Mitunter liest man auch eine andere Zahl: 18446744073709551615 – es geht also um die Frage, ob man das erste Korn mitzuzählen hat oder nicht.
[3] Zahlenfolge in der jede Zahl mit dem gleichen Faktor (hier 2) multipliziert wird.
[4] Vorgänge, bei denen eine Größe pro Zeiteinheit um einen konstanten Faktor (hier 2) zunimmt.
[5] Daß das in einem endlichen System nicht eine tausendfache Spielstärkevergrößerung nach sich zieht, sondern im Falle des Schachs nur eine minimale qualitative Verbesserung, die bis auf weiters von den besten Schachmeistern kompensiert werden kann, wurde an anderer Stelle gezeigt: Warum das Ende naht.
[6] z.B. durch die geringstmögliche Größe der Mikroprozessoren, die durch die Molekülgröße vorgegeben ist. Der kleinste vorstellbare Prozessor kann nicht kleiner sein als eine Mindestansammlung notwendiger Moleküle.

7 Gedanken zu “Ist Sterben noch modern?

  1. Ulrich Christoph schreibt:

    Darf ich Ihre Literaturliste erweitern um das Hauptwerk von Stanisław Lem, „Also sprach Golem“, in dem Golem XIV, ein äußerst intelligenter Angehöriger der Maschinenintelligenz des 21. Jahrhunderts, dem die Probleme seiner menschlichen Konstrukteure zu banal geworden sind, vor seinem Eintritt in eine „Zone des Schweigens“ Vorlesungen über die Stellung des Menschen im Kosmos hält.
    Als Komplement eignet sich Bernd Gräfrath, „Lems Golem“, eine Analyse und Deutung von Lems philosophischem Werk.

    Seidwalk: Mit Gräfrath schließt sich ein kleiner Kreis. Er hatte vor dem Lem-Buch schon einmal über Lem geschrieben, in „Ketzer, Dilettanten und Genies“. Gefeiert wurde das Buch vor allem aber wegen seiner Analyse vom Emanuel Laskers „Philosophie des Unvollendbar“. Damit hatte er eine kleine Lasker-Renaissance ausgelöst. 2000 wurde dann in Berlin die Lasker-Gesellschaft gegründet, an der ich teilgenommen hatte. Dort sprach ich auch mit Robert Hübner, dem Philologen und Schach-GM und ich weiß auch, daß es hier Leser gibt, die ebenfalls Gründungsmitgleiter der Gesellschaft waren. Ein Gruß!

    Ulrich Christoph: Ob es sich bei Kurzweil um einen Ketzer, einen Dilettanten oder ein Genie handelt, möchte ich hier und jetzt nicht erörtern, bei der – Jahre zurückliegenden – Lektüre von Interviews mit ihm und von Artikeln von seiner Hand kam mir regelmäßig und unwillkürlich die Bezeichnung „Scharlatan“ in den Sinn; sollte ich mich irren, und er seine Vision verwirklichen können, dann sollte es mich nicht wundern, wenn die bedauernswerten Mitbewohner der aufregend neuen Kurzweil-Welt den großen Mann recht bald in „Langweil“ umbenennen werden. Undank ist der Unsterblichkeit Lohn.

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    • Pérégrinateur schreibt:

      Die Lektüre von Swifts Gullivers Reise sollte jeden ein- für allemal von solchen Träumereien kurieren. Dergleichen Prolongationswünsche ziehen nur die angenehmen Aspekte in die Zukunft und lassen die unangenehmen aus, die sehr schmerzen können. Ewiges Leben ohne ewige Jugend bringt ewige Gebrechlichkeit, mit ewiger Jugend aber ewiges Andauern der Einfalt. Usw. Inhärent widersprüchliche Wünsche zu hegen fällt manchem leicht, doch sie zerbrechen an der intoleranteren Wirklichkeit. Gegen diese fiese Unterdrückerin aus einem Zeitalter, das wir doch endlich und glücklich überwunden haben, sollten die in Berlin endlich ein Gesetz machen … oder besser gleich in Brüssel.

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      • Man muß in diesem Zusammenhang auch immer wieder an Simone de Beauvoirs meisterhaften Roman „Alle Menschen sind sterblich“ erinnern, der neben dem Schmerz auch die Einsamkeit in der Ewigkeit betont. Allerdings bei etwas veränderter Versuchsanordnung: Ihr Held ist der einzige Unsterbliche und ist es irgendwann leid, sich immer wieder neu verlieben und paaren zu müssen und in den geliebten Menschen nur noch Madensäcke sehen zu können. Letztlich würde aber auch Kurzweils Vision nur für einen kleinen Kreis machbar sein – also auch er müßte viele Abschiede nehmen und würde sich irgendwann ein Ende dieser Erfahrung wünschen. Über die logischen Paradoxa muß man gar nicht nachdenken – Stichwort Überbevölkerung. All das zeigt aber, die Gefährlichkeit solchen Denkens.

        An der Wahrnehmung des Schmerzes und des Leids kann man den Paradigmenwechsel, der hier mehrfach beschrieben wurde, wunderbar bestätigt finden: die Alten wollten ihn überwinden, indem sie ihn entweder lernten auszuhalten oder den heroischen Tod suchten. Die Modernen geben sich Spritzen, Tabletten, Gleichheit, Recht auf Alles und Amüsement, um ihn auszublenden und das Ende zwischen den Kissen – „párnák közt“, wie hier letztens Petőfi zitiert wurde – ganz unheroisch und ängstlich herauszuzögern. Die psychopolitische Bedeutung der Anästhesie im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit und der Massenmigration – denn Auswandern ist heutzutage nur eine spezifische Form der Betäubung, des Ausweichens vor dem Leid – ist noch nicht einmal im Ansatz verstanden worden.

        Dazu auch: Die alte Leidkultur

        Der heroische Tod ist heute fast nur noch islamistischen Radikalen vorbehalten – er wird in der Presse und im Politiksprech unter der Bezeichnung „feiger Akt“ abgehandelt.

        Gerade lief eine semispannende Diskussion auf SiN zur Frage. Auslöser war der „Heldentot“ des russischen Majors Filipov, der sich durch Selbstsprengung der Gefangenschaft entzogen hatte. Leider sind sich die Diskussionsteilnehmer nicht bewußt, daß sie die Begriffe „Heroismus“ und „Tapferkeit“ vermischen. Ersteres ist eine Außenzuschreibung und also immer blickwinkelgebunden, letzteres eine innere Tugend.

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        • Pérégrinateur schreibt:

          Das Thema der Einsamkeit tritt übrigens auch bei Swift auf: Die Unsterblichen verstehen nämlich schon nach zwei oder drei Jahrhunderten die Sprache der Lebenden nicht mehr. Für in der Sache gefährlich halte ich den Unsterblichlichkeitswunsch übrigens nicht, und zwar schlichtweg deshalb, weil er mit Sicherheit fehlschlägt. Schlimm daran ist allenfalls, wenn die davon Befallenen deswegen anderen Unfug anrichten, was eben nicht so selten ist bei Personen mit überwertigen Ideen.

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          Zu einem Nebenaspekt der Diskussion auf SiN:

          Ich finde, Littells « Les Bienveillantes » sind vermurkst. Der Autor hatte anscheinend die Absicht, den völlig bruchlosen, „kleinschritt-evolutionären“ Weg zu zeigen, auf dem manche vom wohlwollenden Idealismus bis hin zu den widerwärtigsten Taten geraten, und damit auch die in vielen Köpfen sitzende Vorstellung einer gewissermaßen metaphysischen Trennung der Guten und der Bösen anzugreifen. Wieso aber kommt er dann mehr und mehr aufs mythologische Geleis und lässt sein Versuchstier eine höchst private Psychopathie ausbrüten? Dieses Inzestmotiv mag ich bei szenisch dargebotenen Familiengeschichten drachenzahngeborener Kadmiden ganz gerne leiden, aber nicht mehr von Autoren aus heutiger nachmythologischer Zeit geboten bekommen. Im Grund liefert es im Buch doch dann wieder die von den Kindern jeden Alters immer gerne genommene „Erklärung“ dafür, wieso die Nazis so böse gehandelt haben – weil sie nämlich böse Menschen waren. Wieso also ist sein Protagonist ausgeartet? Weil er persönlich einen Knacks hatte! ― Eine Anagnorisis des Teufels mit Huf und Schwefelduft.

          Im übrigen ist der Schinken auch viel zu dick, insofern ähnelt er dem zweiten Band von Musils „Mann ohne Eigenschaften“: Brüderlein und Schwesterlein, schief gebaut, Autor kommt partout nicht zu Ende. Nur dass dort Moosbrugger nur eine Nebenhandlung liefert. (Ob der im zweiten Band überhaupt noch auftritt? – Keine Ahnung mehr!)

          Offenkundig hat sich der Autor durchaus sehr fleißig in die behandelte Epoche eingelesen, was ihm sehr hoch anzurechnen ist. Denn wer es sich einfach machen will, kann bei solchen heiklen Themen ja brav mit der am Tage erwünschten Flagge wedeln, so wird ihm schon niemand von jenen vielen und gewöhnlich sehr Empörungsbereiten ans Bein fahren, deren Moral von der Geschicht wohl wie eh und je heißen wird: „Es ist schon schlimm, was Menschen Menschen antun – also ich könnte das ja nicht!“ Luttell hat aber offenbar allenfalls nur wenig Deutschkenntnisse. In der Originalversion stellt er dem Namen einer Besatzungsinstitution, die ein deutsches Allerweltswort im Bezeichnungkern trägt, einen Artikel im nicht dazu passenden Geschlecht vor, und zwar ganz offenbar im Glauben, damit dem Deutschen getreu zu werden. (Dieser passte also auch nicht zur naheliegenden französischen Übersetzung, wie es etwa bei „der Königsplatz“ → « la Kœnigsplatz » der Fall wäre.)

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          Im übrigen gehen mir die notorischen „feigen islamistischen Attentäter“ ebenfalls gegen den Strich. Von vielen wird die Formel aus schierer Dummheit nachgeplappert, oder in höherer Stellung, weil man schließlich in keinen bösen Verdacht geraten will. Dafür gibt diese phrasenhafte Wendung aber anderen die feste Gewissheit darüber, welche intelligenzbestialischen Sprachkünstler den öffentlichen Weihwedel in die Milch der frommen Denkungsart tauchen.

          Kennen sie den Essay « Chers djihadistes… » von Philippe Muray? Seine Diagnose in Kurzfassung: Die fatalste soziale Krankheit ist nicht nach Europa eingewandert, sondern sie ist hier ausgebrütet worden. (Verfall der Werte, usw. usf. Bitte um Entschuldigung, falls Sie das Buch schon erwähnt haben sollten – mein Gedächtnis ist leider schlecht. Auch die an den Essay könnte besser sein.)

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          • Der Traum vom ewigen Leben ist natürlich illusionär, wenn man ihn wörtlich nimmt. Sieht man aber die tatsächliche Möglichkeit der maßlosen Elongierung der Existenz, dann wird der destruktive Charakter des Projektes sichtbar. Wenn man den Altersprozeß durch Manipulation der Telomere, also der Chromosomenenden, die das Erbmaterial schützen, bei jeder Teilung aber kürzer werden, aktiv beeinflussen kann, dann dürften bald – gemeinsam mit Ernährungs-, Medizin- und Fitneßprogrammen – Dimensionen erreicht werden, die gespenstisch werden. 200, 300, 400 Jahre dürften schon im Bereich des Denkbaren liegen. Wenn man allein die Lebenserwartungsstatistiken der letzten Jahrzehnte ansieht, kann einem schon schwummrig werden.

            Gefährlich ist die Ideologie, der Gedanke, der Wunsch, das Begehren.

            Das betrifft natürlich nur den „natürlichen Tod“. Mit der Lebensspanne wächst allerdings auch die Wahrscheinlichkeit von einem Meteoriten am Kopf oder von der Kugel ins Herz getroffen zu werden … Wie unerträglich wird ein früher Unfalltod sein, wenn man noch 400 Jahre vor sich hätte?

            Mal davon abgesehen. Mir scheint, unter dem, was kommen wird, sind Dinge und Ereignisse, die man besser nicht erleben will. Die Kurzweiler – nomen est omen? – gehen vom unendlichen Progreß aus und glauben noch immer an Fukuyama.
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            Die literarischen Defizite Littells liegen auf der Hand – sowohl der Beginn als auch das Ende des Romans sind bedenklich. Das sind 300 Seiten, die man herauskürzen kann. Was bleibt ist diese gigantische Phänomenologie und Psychologie der Gewalt, die in ihrer Dimension einzigartig ist. Dennoch: man kann die Realität schreibend nicht einholen – dieser Hiatus bleibt. Man kann das nur durch Voluminösität kaschieren, die Alltäglichkeit muß sich in Differenz und Wiederholung und also in Langeweile übersetzen. Daß man sich dabei langweilen kann, daß ist ja das subtil eingebaute Schockelement dieser epischen Prosa. Mit seiner Mythologisierung wollte er wohl den Anschluß an die großen Gesänge herstellen – und das ist zu gewollt und, wie Sie sagen, zerstört auch den inneren Auftrag des Buches.

            Philippe Muray kenne ich nicht – klingt so, als sollte man Herrn Lichtmesz diesen Tip geben.

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            • Pérégrinateur schreibt:

              In meiner Kindheit habe ich mich über einen häufigen Spruch der Alten gewundert: „Was bin ich froh, dass ich schon so alt bin! Da muss ich nicht mehr alles erleben, was ihr noch werdet erleben müssen.“ Inzwischen ertappe ich mich mehr und mehr bei Ähnlichem. Irgendwann hat man wohl endgültig genug, und die Flucht vor dieser nüchternen Feststellung in die Utopie ist nur schäbig.

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  2. Konservativer schreibt:

    Geehrter seidwalk

    Sie berühren mit diesem Beitrag ein Feld, mit dem ich mich beschäftige, seitdem ich von Günter Maschke darauf aufmerksam gemacht wurde.

    Zitat:

    “ …
    Als Rechter habe ich beispielsweise eigentlich kein Interesse an der „Einheit der Welt“ oder daran, daß die Völker „zusammenkommen“, Ich kann nicht rechts sein ohne eine tiefe Skepsis gegenüber der menschlichen Aktivität. Es müßte demnach heute darum gehen, wie man gewisse menschliche Aktivitäten reduziert, verlangsamt, abbricht, zum Beispiel die durch die Technik ungeheuer erleichterte Zerstörung der Umwelt und der Städte. Es ist uns bisher nicht gelungen, die Technik politisch in den Griff zu bekommen, ihr Rasen zu stoppen oder zumindest zu kontrollieren. Und das wäre die eigentliche Aufgabe. Ich muß die Beschleunigung der Welt aufhalten, auch schon deshalb, weil Goethe gesagt hat: ‚Jedes Wachstum der menschlichen Fähigkeiten, das nicht von einem Wachstum seiner Güte begleitet ist, wird den Menschen schlechter machen.“ So ist unsere ganze Lage, und andererseits ist das immer noch eine Epoche der Angst. Der Mensch weiß um seine Nichtigkeit, deswegen liebt er auch die Menschenrechte so, weil ihm da bescheinigt wird, was er im Zeitalter der Klonung für ein liebenswertes, originelles und erhaltenswertes Geschöpf ist, während ihn vorne die Firma auf die Straße wirft und ihm hinten die Stütze gekürzt wird. Der Mensch ist größenwahnsinnig und erfährt zugleich seine völlige Ohnmacht — diese ganze Misere muß man erst einmal ermessen … Für eine rechte Politik sehe ich in diesem Sinne gar keine Chance. Vielleicht muß sich das alles erst „ausrasen“. An und für sich bin ich heute ein Privatier und ein sich in sein Häuschen verkriechender Privatgelehrter. Ich sehe hier in Deutschland eigentlich keine Möglichkeiten mehr. Es wird zu einer Implosion kommen, weil sich in den nächsten Jahren hier Krisenprozesse beschleunigen werden auch als Folge der demographischen Zusammensetzung der Bevölkerung.

    Das Drama des modernen Menschen verschärft sich. Er verliert jetzt auch noch den Ort. Weder Nation noch Religion bieten ihm heute Unterstand. Alle schwarzen Utopien der „termitisierten“ Gesellschaft werden heute wahr. Es gibt Reaktionen darauf, wie den „Kommunitarismus“, aber die empfinde ich letztlich als sehr künstlich und peinlich. Es gibt nun ein mal heute kein einigendes Band mehr zwischen den Menschen, nicht ein mal in den kleinsten Gemeinden Wir haben heute eine auf vollkommener Vermassung beruhende Individualisierung, die überhaupt kein Gespräch jenseits des lächerlichen Small-talks mehr zuläßt. Dazu kommt die völlige Entwertung von Erfahrungen, was schon damit anfängt, daß alle drei Jahre mein berufliches Wissen obsolet wird. Insofern glaube ich, daß gegen die Entfremdung überhaupt kein Kraut gewachsen ist.

    Der Mensch ist heute ohnmächtiger als je zuvor, abhängiger als je zuvor und größenwahnsinniger als je zuvor. Er wird dabei immer stärker in diesen modernen Prozeß hineingezogen und kann am Ende nicht einmal mehr artikulieren, woran er leidet. Dann säuft er nur noch Alkohol oder nimmt Kokain. Wenn man also die Gesellschaft nicht durch eine Instanz, zum Beispiel den Staat, unter Kontrolle bekommt, wird man diesbezüglich nichts blockieren, ändern oder rückbauen können. Dafür scheinen aber alle Züge abgefahren zu sein.
    ..“

    „aus „Bye-Bye ’68…: Renegaten der Linken, APO-Abweicher und allerlei Querdenker berichten“ von C. M. Wolfschlag (Herausgeber))

    Seidwalk: Haben Sie schon Bahro gelesen? Könnte etwas für Sie sein, wenn diese Zeilen Sie umtreiben: https://seidwalkwordpresscom.wordpress.com/2017/12/05/logik-der-rettung/

    Allerdings verstehe ich den Bezug zu „rechts“ nicht recht. Es gibt ähnliche Überlegungen aus ganz anderen Richtungen, z.B. vom Hegelianer Hösle oder von Eugen Drewermann (politisch den Linken nahestehend) oder Günter Anders und natürlich von Heidegger u.a.

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