Das existentielle Apriori

Manchmal, wenn man liest, schlägt einem unverhofft ein Satz, eine Aussage vor den Kopf, oftmals eine Banalität, ragt ein erschütternder Gedanke heraus, beben die Fundamente. Plötzlich öffnen sich – vielleicht nur für einen Moment und allzu oft verschwindet der entscheidende Einfall schon nach wenigen Augenblicken für immer – die Himmel … oder die Hölle. Da wird alles infrage, da werden manchmal Weichen gestellt, da fragt man sich die Frage aller Fragen: Wozu?

So ein Satz war dieser:

„Da ich inzwischen intellektuell-wissenschaftliche Divergenzen nicht im Argument, sondern in einem existentiellen Apriori des Urteilenden begründet sah, ließ ich alles unentschieden.“

(Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie. S. 475f.)
siehe auch:
Bohrer jetzt!
Die Verteidigung des Fremden
Konservatismus und Differenz
Glaubenstiefe und deutsche Härte
Autoritäre Persönlichkeit von Jürgen Habermas

8 Gedanken zu “Das existentielle Apriori

  1. Kurt Droffe schreibt:

    Nur mal ganz kurz: Kommt man nicht in vielen Diskusionen und bei vielen Themen oft an einen Punkt, an dem die grundlegenden und nicht weiter hinterfragbaren (ethischen) Überzeugungen weiteres Reden nahezu sinnlos machen? Oft reicht dafür schon der Unterschied zwischen optimistischem und pessimistischem Blick in und auf die Welt. Auch bei wirtschaftsethischen Diskussionen kommen Sie oft dahin, daß der eine den Menschen primär als Gesellschaftswesen sieht, der andere primär als Individuum (hat ja nun längere denkerische Tradition). Entsprechend wird der eine den Ertrag der Arbeit als gesellschaftliches Gut ansehen, daß zu verteilen sei, der andere als privaten Verdienst, der zu behalten sei. Wissenschaftlich und argumentativ ist da nicht mehr viel zu wollen, das sind Setzungen, die liegen tiefer als die Vernunft. Man kann dann nur noch utilitaristisch argumentieren.

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    • Haben Sie den Bohrer gelesen? Sie kommen direkt auf den springenden Punkt. (als hätten Sie ihn gelesen)!

      Was aber ist die Konsequenz? Daß Menschen aus ihrer Natur her letztendlich Utilitaristen sind, daran besteht wohl kein Zweifel (selbst ein Franziskus (der echte) oder eine Elisabeth oder ein Gandhi). Zuvor aber gebe ich mich immer wieder der Illusion hin, man könne durch argumentative Vernunft etwas erreichen – nicht nur bei den anderen, sondern vor allem bei sich selbst. Das Erschütternde an Bohrers Aussage – ich erwähnte es gerade beim Vorredner – ist wohl, daß wir hier Zeuge des Momentes sind, wo ein eigenständiger Kopf, der Jahrzehnte damit verbracht hat, andere zum kritischen Denken zu führen, sich das Scheitern der argumentativen Vernunft eingestehen muß, vermutlich, weil ihm die Kraft ausgegangen ist und er vor der Wucht der Ignoranz erschrickt.

      Sie haben vermutlich recht, diese Grenzen gibt es – aber es d a r f sie nicht geben! Zumindest nicht, wenn wir von „ethischen Überzeugungen“ sprechen und nicht von Glauben – das wäre ein anderes Terrain

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      • Kurt Droffe schreibt:

        Ich habe noch Bohrers „Granatsplitter“ auf dem berüchtigten Stapel, und das schon seit fast zwei Jahren…
        Vemutlich kann man mit einem Utilitaristen noch besser diskutieren als mit einem Idealisten. Auf jeden Fall scheint mir das argumentativ der einzige gangbare Weg: die Prämissen des anderen akzeptieren und aufzeigen, wohin das, logisch durchgedacht, führen würde. Beim Sozialismus: In die Armut und die Diktatur. Bei, sagen wir, der Massenimmigration: dito. Und wenn Sie dann bei letzterem Thema jemandem gegenübersitzen, der dies eben als gerechte Strafe für den weißen Mann ansieht, dann ist halt da das Ende der Diskussion in Sicht. Bzw., als schlichter Kniff, das argumentum ad hominem letzter Ausweg: Möchtest Du denn, daß Dein und Deiner Lieben Leben sich so und so und so zum Schlechteren wendet?
        Im Übrigen kann der Wert einer Diskussion zumindest darin liegen, bis zum granitenen Untergrund des a priori überhaupt einmal vorzudringen. Ob man den dann mit welchem Preßlufthammer auch immer noch aufbekommt, steht dahin; wer mag das schon..

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        • Pérégrinateur schreibt:

          Viele verdauen allerdings gerade die reductio ad absurdum ganz besonders schlecht. Ähnlich wie viele andere das Einschließen beim Mühlespiel – sie haben danach nicht mehr und nicht weniger verloren als durch Figurenverlust, sie nehmen aber sehr viel mehr übel. Man sollte sich aber davon nicht abhalten lassen. Auch die Angst mancher zuvor allzu Selbstsicherer vor der Blamage kann zumindest das allgemeine Gesprächsklima verbessern.

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  2. … und setzte damit sein Apriori des urteilenden alten Weisen. Ist nicht schlimm, mancher performative Selbstwiderspruch ist nötig. Nur – seines höchstpersönlichen existenziellen Apriori muß man eingedenk sein, und dann sein eigenes dagegensetzen: nichts unentschieden lassen! Mit Sloterdijk und Bohrer im Sinn ausrufen: Du mußt dein Leben ändern, jetzt!

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  3. Pérégrinateur schreibt:

    Bezieht sich die Aussage auf die Divergenzen zwischen zwei bestimmten Personen in einer bestimmten Frage oder ist sie als allgemeines Urteil zu verstehen?

    Die allgemeine Aussage ist wie die meisten Allaussagen falsch, hat jedoch eine große statistische Evidenz für sich. Sie liegt insofern um ein Vielfaches näher an der Wirklichkeit als die gegenteilige Aussage, es gehe in Disputen für die Beteiligten (oder doch zumindest die der eigenen Meinung nahestehenden) in der Regel um die Wahrheit. Näheres in Nietzsches „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“. Quelle etwa hier:

    http://www.nietzschesource.org/texts/eKGWB/WL

    Wissenschaftler sind etwas besser gefeit gegen das Betreiben nicht-„philosophischer“ Agenden, aber ihre Bäume wachsen auch nicht in den Himmel. Mit am schlampigsten wird nach meinem Eindruck – abseits der ganz dünnen und steilen Abstraktionen, wo dann keiner mehr eine Anschauungsbasis hat, die gewöhnlich etwas erdet – in der Ethik argumentiert.

    Im Wesentlichen hat Bohrer wohl nur so in etwa die Schopenhauersche Regel beherzigt:

    „Die einzig sichere Gegenregel [gegen das Abgleiten ins Unsachliche und Beleidigende] ist daher die, welche schon Aristoteles im letzten Kapitel der Topica gibt: Nicht mit dem Ersten dem Besten zu disputieren; sondern allein mit solchen, die man kennt, und von denen man weiß, daß sie Verstand genug haben, nicht gar zu Absurdes vorzubringen und dadurch beschämt werden zu müssen; und um mit Gründen zu disputieren und nicht mit Machtsprüchen, und um auf Gründe zu hören und darauf einzugehn; und endlich, daß sie die Wahrheit schätzen, gute Gründe gern hören, auch aus dem Munde des Gegners, und Billigkeit genug haben, um es ertragen zu können, Unrecht zu behalten, wenn die Wahrheit auf der andern Seite liegt. Daraus folgt, daß unter Hundert kaum Einer ist, der wert ist, daß man mit ihm disputiert. Die Übrigen lasse man reden, was sie wollen, denn desipere est juris gentium, und man bedenke, was Voltaire sagt: La paix vaut encore mieux que la vérité; und ein arabischer Spruch ist: »Am Baume des Schweigens hängt seine Frucht der Friede.«“

    Quelle etwa hier: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-kunst-recht-zu-behalten-4994/40 (Verdient, in Gänze gelesen zu werden.)

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    • Das ist nun der fünfte Beitrag zu Bohrer, der fünfte Wink … und Sie haben das Buch noch immer nicht gelesen!?

      Ernst beiseite! Sie wissen gar nicht, wie aktuell Ihre Anmerkungen gerade sind – aber nein, Sie wissen es wahrscheinlich doch …

      Ich habe nun die Quelle in den Beitrag eingefügt. Es geht demnach in dieser konkreten Situation um den seit 150 Jahren weit verbreiteten und noch immer unausgerotteten Gedanken, um die Denkfaulheit letztlich, Sprache und künstlerische Exzellenz als Widerspiegelungen sozialer Zustände zu betrachten. Es ist auch die Kapitulation eines professoralen Selbstdenkers vor der geballten Wucht der studentischen Mediokrität und dem Herdentrieb. Ein tragischer Moment, wie ich finde – immer, wenn ein Mensch gebrochen wird. Er macht auch das eigene quijoteske Tun offenbar. Durch die Konkretion wird die Passage nun freilich etwas entzaubert.

      Darüber hinaus scheint mir die Aussage durchaus verallgemeinerbar – so war sie hier intendiert. Die von Ihnen verlinkten Passagen gehören natürlich zum festen inneren Bestand aller, die sich an dieser Stelle angesprochen fühlen!

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      • Pérégrinateur schreibt:

        Das Buch ist bestellt, die Lektüre wird dann aber noch dauern. Ich habe viel auf Halde, zudem sind die Äuglein bei weitem nicht mehr so gut wie einst.

        Man sollte sich schon eingestehen, dass die Ansichten vieler Menschen unverrückbar feststehen, weil sie nicht als Ergebnis ihrer klarsichtigen Welterfahrung entstehen, sondern der aromatische Auszug ihrer Bedürfnisse und Wünsche sind. Hier gibt es also durchaus eine Widerspiegelung, wenn auch vielleicht nicht immer der gesellschaftlichen Zuständen, sondern oft allein der seelischen Konstitution oder des Charakters. Die hohe Korrelation zwischen Wohnorten und herrschender Religion, zwischen eigener sozialer Lage und politischen Desideraten ist jedoch unverkennbar. Die Einkommensschwachen klagen fast alle über zuwenig an sozialer Gerechtigkeit, die Einkommensstarken dagegen fast alle über konfiskatorische Steuern. Solange das so bleibt, ziehe ich es vor, nur über Interessen und nicht über ethische Grundsätze zu diskutieren. Staffage stört hierbei nur.

        Ärgerlich sind also nur, die sich als vernünftig verstehen und ausgeben, aber es dann doch nicht sind. Von Talleyrand gibt es den schönen Satz, Gott habe den Menschen die Sprache gegeben, damit sie ihre Gedanken besser verbergen können. Man könnte wohl genauso sagen, er habe ihnen den Verstand gegeben, damit sie sich bessere Rationalisierungen verschaffen können.

        Diese Erkenntnis wischt die IIllusion hinweg, zwingt aber nicht zur Resignation. Oder allenfals nur bei denen, die der Hoffnung bedürfen. Es gibt aber auch andere Motivatoren. Nachdem mein Großvater zum Sterben nach Hause gekommen war, sagte er mir einmal, er wolle vor dem Tod noch irgend jemandem einen üblen Streich spielen. (Leider hat es nicht mehr geklappt.) Aber er hatte schon Recht: Leben ist nur, wo Mutwillen ist. Wieso also nicht denen vom obigen Schlage auch ohne Aussicht auf Wandel ihre Widersprüchlichkeit, ihre Verblendung und ihre Lächerlichkeit aufs Brot schmieren? Eine Freundin von mir, durchs Sommermärchen zur Merkelianerin bekehrt, wies lange den Gedanken an eine Obergrenze für die Zuwanderung moralisch entrüstet ab. Auch jetzt noch meint sie, es dürfe keinesfalls irgend eine Obergrenze geben – aber wenn es zuviele würden, müsse man eben die Kriterien verschärfen. Ich wies sie genüsslich darauf hin, dass die Obergrenze jetzt offenbar in ihrem warmen Herzen im Kleid der ominösen Kriterien Einzug gehalten habe, was ihre Eitelkeit anscheinend zusetzte. Und fügte dann noch spöttisch hinzu, dass solche Kriterien ohnehin völlig bedeutungslos sind, wenn man sie gar nicht durchsetzen kann oder will. Die Aue redet zur Täuschung von der Bekämpfung von Fluchtursachen, die ihr folgenden Lämmlein blöken zur Selbsttäuschung im Chor wieder andere wortmagischen Rezepte. Man sollte gleichsam polyphemisch mit der Fackel etwas an die brennbaren Felle hin.

        Man kann also auch mit der Illusionslosigkeit ganz gut leben.

        * * * * * * * * * *

        « Amusez-vous dans la vie. Il haut jouer avec elle. Et bien que le jeu ne vaille pas la chandelle, il n’y a oas d’autre chose à faire. » Voltaire

        “BRAIN, n. An apparatus with which we think what we think. That which distinguishes the man who is content to be something from the man who wishes to do something. A man of great wealth, or one who has been pitchforked into high station, has commonly such a headful of brain that his neighbors cannot keep their hats on. In our civilization, and under our republican form of government, brain is so highly honored that it is rewarded by exemption from the cares of office.” Ambrose Bierce

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