Es sind oft die unwesentlich scheinenden Kleinigkeiten, die uns über den Ernst der Lage in Deutschland informieren. Etwa die Meldung, daß die „Ernst-Moritz-Arndt-Universität“ in Greifswald nun nicht mehr so heißen möchte – was natürlich nicht stimmt, denn nur eine Mehrheit des Senats hat darüber entschieden. In einem langjährigen Prozeß, der uns gleich als „demokratisch“ verkauft wird und also zu akzeptieren sei – oder wollen Sie als undemokratisch gelten? –, hat man es sich nicht leicht gemacht.
Hakt man nach, entdeckt man ein seltsames Demokratieverständnis! So hatte es bereits vor sechs Jahren einen demokratischen Prozeß gegeben, in dessen Ergebnis sowohl die Studentenschaft als auch der Senat sich für den Namensgeber entschieden.
Nun, das hat den linken Flügel der Demokratiestreiter vermutlich so lange gewurmt, bis man mutmaßlich durch Bearbeitung oder Auswechselung des Personals schließlich zur wirklich „demokratischen“ Sicht gelangte und endlich eine Senatsmehrheit hatte – Stadt und renitente Studenten wurden offenbar nicht mehr zu Rate gezogen.
Nach ähnlichem „demokratischem“ Procedere kam jene düstere Kraft in Deutschland legitim an die Macht, die uns ein Erbe hinterließ, das wie ein Prisma alle Wahrnehmung der „Vorgeschichte“ umbiegt und dem nun auch Ernst Moritz Arndt in Greifswald zum Opfer gefallen ist.
Aber wer war nun dieser Arndt? Kaum jemand kennt den Protodemokraten, preußischen Reformator, Schriftsteller und Historiker noch und auch ich muß bei Wikipedia nachschlagen, um versunkenes Geschichtswissen aufzufrischen. Allein dieser Wikipedia-Artikel ist ein Idealbeispiel für den prismatischen Geschichtsblick, betont und überbetont er doch das „Problematische“ – Arndts „Antisemitismus“ und „Nationalismus“ – und verringert, allein anteilsmäßig, seine Verdienste und seine positive Bedeutung. Man muß kein Arndt-Experte sein, um das zu sehen.
Klar, man erschrickt ein wenig, wenn man heute – also nach dem historischen Brennglas 33/45 – liest: „Die Deutschen sind nicht durch fremde Völker verbastardet, sie sind keine Mischlinge geworden, sie sind mehr als viele andere Völker in ihrer angeborenen Reinheit geblieben und haben sich aus dieser Reinheit ihrer Art und Natur nach den stetigen Gesetzen der Zeit langsam und still entwickeln können“ (was mit den heutigen „verbastardeten“ Deutschen freilich nichts mehr zu tun hat).
Oder: „Wenn ich sage, ich hasse den französischen Leichtsinn, ich verschmähe die französische Zierlichkeit, mir mißfällt die französische Geschwätzigkeit und Flatterhaftigkeit, so spreche ich vielleicht einen Mangel aus, aber einen Mangel, der mir mit meinem ganzen Volke gemein ist.“
Dieser Aussage stimme ich übrigens vorbehaltlos zu – mir liegen die Italiener und Skandinavier auch mehr als die Franzosen in ihrer Art –, aber ich würde nicht von Haß sprechen, weil es keiner ist, sondern nur eine erfahrungsbasierte Präferenz.
Doch wäre mir immerhin bewußt, daß das Wort „Haß“ in den letzten 200 Jahren einen Deutungswandel hinter sich hat, zudem facettenreich ist, und was heute drastisch klingt, dürfte bei Arndt bedeutet haben: „Ich mag sie nicht“ – ein Gefühl im Übrigen, dem man sich als Deutscher fast weltweit immer wieder ausgesetzt sieht, und das aus vier Gründen: 1. jene 12-jährige Geschichtsepoche, 2. ihr verkrampfter und verschämter Umgang damit 3. die „typisch deutsche Arroganz“, immer besser sein zu wollen oder zu sein und damit die Welt – wenn nicht aggressiv, so doch passiv-aggressiv (wie seit 18 Monaten) oder durch organisierte Unterwürfigkeit und falsch verstandene Demut, also gewissensbelastend – 4. beherrschen zu wollen.
Zurück zum Ernst der Lage. Derartige Äußerungen gibt es also und auch nicht wenige. Daß freilich ein Mann, der sein Leben lang aktiv gegen die Franzosen kämpfen mußte, das unmittelbare Leid der napoleonischen – Napoleon, der in Frankreich übrigens ein zwar umstrittener, aber doch ein Held ist – Kriege und Okkupation erlebt hat, einen gewissen „Haß“ gegen jene hegte und hegen durfte, wird unterschlagen. Diesen „Haß“ durch das historische Prisma, das alle Spektralfarben der geschichtlichen Vielfalt und Deutung in einen weißen, grellen, „antifaschistischen“ Strahl bündelt, diesen „Haß“ ausschließlich durch jenes Prisma sehen zu wollen, ist falsch und dumm dazu.
Und so auch mit dem sogenannten „Antisemitismus“ Arndts. Was er hier beschreibt, sind die gängigen Vorurteile seiner Zeit, die die gesamte Literatur, die gesamte Geisteswelt als Grundkonstante durchziehen, die einerseits dem damaligen Stand der Aufklärung und die andererseits auch der tatsächlichen Erfahrung entsprachen. Das haben nicht zuletzt die intellektuellen Köpfe des zeitgleichen Judentums, wie Moses Mendelssohn oder Meȉr Aaron Goldschmidt[1], selbst so gesehen, das wurde auch später immer wieder aufgearbeitet, etwa durch Arnold Zweig[2]; und trotzdem führten sie den wichtigen Kampf gegen diese Vorurteile – mit langsamem, aber auch lang anhaltendem Erfolg.
Die Vertreter der Politischen Korrektheit, die nun auch den historischen Raum mit eisernem Besen auskehren wollen, gehen einmal mehr von einem irrsinnigen Ideal aus: dem perfekten Menschen. Aber den gibt es nicht. Auch die linken Ahnherren der Epoche waren „Antisemiten“: Marx war „Antisemit“ (als Jude), Engels war „Antisemit“ und antislawischer Rassist – man lese nur den Briefwechsel der beiden –, und Lenin war es auch … Shakespeare schuf den Shylock und Luther gehört sowieso vergessen, aber auch Schiller notierte in den „Räubern“: „Warum sollte der Teufel so jüdisch zu Werke gehen?“ und Muslim Goethe dichtet im Nationalepos[3]: „Der Jude wird mich nicht verschonen,/ Der schafft Antizipationen,/ Die speisen Jahr um Jahr voraus./ Die Schweine kommen nicht zu Fette,/ Verpfändet ist der Pfühl im Bette,/ Und auf den Tisch kommt vorgegessen Brot.“[4] Ja selbst Paradeaufklärer Kant und sogar der achsotolerante Lessing waren nicht frei davon…
Mit dem Fallbeil des Antisemitismus kann man die ganze deutsche Geschichte enthaupten – und die französische, die russische, die englische … ja die gesamte europäische dazu und wahrscheinlich sogar die jüdische.
Zurück nach Greifswald, wo man Arndt, der an der Uni selbst studierte und lehrte, als unerwünscht erklärt, wo aber der Hamburger Stalinist und Antisemit Thälmann Namensgeber der Ringstraße ist. Mancher glaubt an linke Verschwörungen, wenn er so etwas liest. Mir scheint, die Prozesse sind weniger bewußt gemacht als geworden. Sie sind das logische Produkt jahrzehntelanger Hegemonie an Schulen, Hochschulen und in den Medien. Es werden politisch korrekte und leider oft farblose oder charakterlich fragwürdige, es werden „letzte Menschen“ herangezüchtet, die in vorgegebenen Bahnen denken, auf Knopfdruck „kritisch“ sind und schleichend – ohne daß sie sich dessen möglicherweise bewußt sind – das gesellschaftliche Klima ändern.
Es hat sich letztlich das „Narrativ“ György Lukács‘ – selbst noch ein Charakter – durchgesetzt, der in den 50er Jahren das maßgebliche Buch „Die Zerstörung der Vernunft“ geschrieben hatte und darin eine Verantwortungslinie entwarf, die direkt „von Schelling bis Hitler“, eigentlich aber von Luther bis Hitler führte, eine unmittelbare Belastung jener prähitlerischen Autoren konstruierte und seither das Studium dieser (und anderer) Denker vergiftet: Nietzsche und Heidegger als die bekanntesten Köpfe, aber für Lukács war es auch kein Problem, Ludwig Klages und Ernst Jünger etwa mit Alfred Rosenberg in einem Kapitel unterzubringen. Eine stalinistische oder maoistische Entelechie blieb selbstredend außerhalb seines Gesichtskreises.
Kaum jemand hat das Buch gelesen und wer es gelesen hat, hat sich meist davon distanziert – subkutan hat es (und andere Arbeiten dieser Richtung) aber sein Gift langsam entlassen, im Zuge der 68er Revolution wurde das Gift schon rezeptfrei verteilt, durch Habermas und Schülerschaft dann philosophisch begründet, zum Herrschaftsdiskurs erhoben und mit der PC kann es nun jeder tintenspritzende Scharlatan als Wundermittel frei verschreiben.
Das zeigt uns die Trägheit der historischen Prozesse und sollte uns auf zweierlei vorbereiten: Sofern es keinen historischen Totalabbruch gibt, wird es Jahrzehnte dauern, den historischen Körper wieder zu entgiften. Aber gleichzeitig gilt es, aufmerksam zu sein, ob nicht schon längst ein neues Gift dabei ist, seine schleichende Wirkung zu entfalten.
Die Losung des Tages aber muß lauten: Wehret den Anfängen und Fortschritten der historischen Entwurzelung, die das deutsche Volk und erst recht die Bevölkerung zu einer geschichts- und identitätslosen Verfügungsmasse macht.
Geschichtslosigkeit ist Gesichtslosigkeit!
7.3.2017: Neue Entwicklung – Greifswalder Uni heißt weiter nach Arndt, wenn auch aus den falschen Gründen
„Wehret den Anfängen und Fortschritten der historischen Entwurzelung, die das deutsche Volk und erst recht die Bevölkerung zu einer geschichts- und identitätslosen Verfügungsmasse macht.“ – finde ich auch stark – wie den ganzen Text von Seidwalk!
Kleines Fundstück noch dazu: Historiker und Kolumnist Götz Aly schrieb in der Berliner Zeitung
Mit missionarischem Eifer versuchen einige, unsere Nationalgeschichte zu reinigen
Nicht wenige deutsche Zeitgenossen betätigen sich als eifernde Hüter sehr spezieller Wertvorstellungen: Die einen demonstrieren für eine spezielle Ernährungsüberzeugung, andere heiligen den Fahrradfahrer als solchen, wieder andere schützen obsessiv Tiere, Hartz-IV-Empfänger, Mieter, Migranten oder verlegen Stolpersteine. In Maßen praktiziert erscheint mir all das ehrenwert. Doch geht mir missionarisches Getue auf die Nerven. Sträflich finde ich die Einbildung, auf solche Weise gelänge es den Einpunktaktivisten, das Gute zu retten und das Böse zu bekämpfen. Als Historiker habe ich häufig mit dem Spezialfall der Geschichtsexorzisten zu tun. Sie verstehen sich als Teufelsaustreiber und finden in unserer Nationalgeschichte reichlich Futter. Meist pflegen sie verbissen und auf sehr deutsche Art, humorlos vorzugehen. Sobald sie die Umbenennung irgendeiner Straße oder Universität durchgesetzt haben, bilden sie sich ein, sie könnten jetzt dauerhaft von sich behaupten: Wir gehören zum besseren Teil der Menschheit.
Ja, Arndt war Juden und Franzosenhasser. Aber nicht nur.
Nach jahrelangem Hin und Her traf es in der vergangenen Woche die Ernst-Moritz-Arndt-Universität. Sie heißt jetzt nur noch Universität Greifswald. Keine Frage, Arndt war Juden- und Franzosenhasser – aber, auch das stimmt, er war vor 200 Jahren einer unserer führenden Demokraten. Ernst Moritz Arndt kämpfte gegen die Pfaffenherrschaft, Pressezensur und Leibeigenschaft; er stritt für unabhängige Rechtsprechung, allgemeine Schulbildung und für eine die Zivilisten schonende Landkriegsordnung, die erst hundert Jahre später zu internationalem Recht wurde.
Als Vorkämpfer deutscher Einheit und Volkssouveränität ehrten ihn später gleichermaßen Demokraten, Nazis, Kulturlenker der DDR und Repräsentanten der Bundesrepublik. Wir verdanken ihm viel, obwohl er, wie auch Martin Luther, seine dunklen Seiten hat. Darüber findet sich alles Wesentliche zum Beispiel in meinem Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“. Dennoch bin ich dagegen, Arndt aus dem nationalen Erinnerungshorizont zu tilgen. Ich halte solche Umbenennungen für selbstherrliche Siegergeschichte. Sie wird von politisierten, hoffärtigen Rechthabern betrieben, denen jede Demut gegenüber den Grenzen, Leistungen und Irrtümern früherer Generationen abgeht, und zwar aus einem einzigen Grund: Sie halten sich selbst für unfehlbar.
Die Ambivalenzen dürfen nicht vertuscht werden
Was auf Arndt zutrifft, gilt für die frühen Burschenschaftler, für Turnvater Jahn, Heinrich Hoffmann von Fallersleben oder Friedrich List. Sie alle zählen zu den Urvätern der deutschen Demokratie, von ihnen haben wir unsere Nationalhymne und die Farben Schwarz-Rot-Gold. Zweifellos und im Gegensatz zum Reaktionär Metternich waren die genannten Fortschrittler alle auch Judengegner. Aber bessere Demokraten haben wir nicht. Gerade deshalb sollten wir sie nicht vergessen, nicht aus dem öffentlichen Bild verbannen, sondern uns ihrer als Menschen erinnern, die stets das aus ihrer Sicht Gute wollten – und dabei das Böse mit schufen.
Das Problem des deutschen Antisemitismus besteht darin, dass er nicht vor allem in den nationalen Dreckecken entstand, sondern vielfach von Leuten gefördert wurde, die wir aus andern Gründen mit Recht ehren. Wer solche Ambivalenzen vertuscht, betreibt Geschichtsklitterung und Gegenaufklärung.
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Haben Sie Dank für Ihre klärenden Hinweise – stellvertretend für viele andere vorausgegangene Beiträge.
Erlauben Sie eine winzige Randbemerkung zu „(…) bei Wikipedia nachschlagen, um versunkenes Geschichtswissen aufzufrischen.“
Ja, so haben das viele von uns mittlerweile eingeübt, ich natürlich auch. Meine Frau schaut mich dann immer mitleidig an, ist sie nach dem Studium der Germanistik und Geschichtswissenschaften in Fragen der heranzuziehenden Quellen höchstgradig sensibel. Denn auch bei Wikipedia muss man leider sehr wachsam bleiben, sobald es über unstrittige Grundtatsachen wie etwa geographische Koordinaten hinausgeht. Die von Ihnen so treffend beschriebene Imprägnierung des Denkens und Sprechens – auch in dort gibt es sie wohl.
Anekdotenhalber: Walter Krämer aus Dortmund hat zur deutschsprachigen Wikipedia eine bekannt klare Einstellung: https://www.statistik.uni-dortmund.de/iwus-abschlussarbeiten.html
Bitte verstehen Sie diese Zeilen nicht als Kritik an Ihnen – ganz im Gegenteil!
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Man kann aber in der Wikipedia ganz gut erheben, wie die „angesagte“ Haltung zu bestimmten Fragen zu sein hat. Das ist als Stimmungsbild der selbstgewissen Ignoranz nicht ganz uninteressant. Dem nicht ganz Unaufmerksamen verrät oft schon anfangs die verquaste Sprache, womit er es im folgenden zu tun bekommen wird. Beispiele:
• https://de.wikipedia.org/wiki/Islamfeindlichkeit
• https://de.wikipedia.org/wiki/Gruppenbezogene_Menschenfeindlichkeit
Aus den Artikeln schreit einen geradezu die Unfähigkeit an, die eigene Agenda wenigstens schlau larviert zu betreiben. Es ist offen von Zielen der Begriffsbildung und von entsprechenden Annahmen die Rede. Vielleicht sind ja die Schreiber von den Begriffstreibern aus der Soziologie selbst angeregt – wie die hierzulande reden und schreiben, weiß man ja.
Auch die Bearbeitungsgeschichte von Artikeln nach öffentlichen Ereignissen, die ach so berechtigt die Empörung treiben, ist zuweilen recht vielsagend. Man bemerkt nicht selten das penetrante und durch ausreichendes Kreischen in der Diskussion vorangebrachte Streben, den „Bösen“ unbedingt irgendwo den Teufelshuf anzuhängen.
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Noch ein Wikipedia-Fund:
https://de.wikipedia.org/wiki/Willkommens-_und_Anerkennungskultur
Offenbar sind Willkommenskulturartikelkultur und Sprachkultur gänzlich unverträglich.
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Bemerkung zwischendurch: „und was heute drastisch klingt, dürfte bei Arndt bedeutet haben: „Ich mag sie nicht““ – und bedeutet durch Anglisierung der deutschen Sprache bei Jüngeren auch wieder bloß „mag ich nicht“. Filme, Serien, Jugendbücher, Videos usw. übersetzen das englische „I hate… „, dem germanischen Ursprung beider Wörter schlicht folgend, mit „ich hasse“. „I hate Mondays“ ist kein Haß. „I hate being visited by my parents“ heißt im englischen Sprachgebrauch ungefähr: „Och, nicht schon wieder meine Eltern!“, im Deutschen konnotiert es viel drastischer so etwas wie „Dreckseltern!“
Bemerkung zum Schluß: „Wehret den Anfängen und Fortschritten der historischen Entwurzelung, die das deutsche Volk und erst recht die Bevölkerung zu einer geschichts- und identitätslosen Verfügungsmasse macht.“ Richtig gut formuliert, merk ich mir!
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