Heute Morgen (19.4.) habe ich mir schön die Zunge verbrannt. Gerade schlürfe ich meinen Kaffee, lausche den Nachrichten, da höre ich: „Rechte Terrorzelle ausgehoben“, „GSG9-Einsatz in Freital“, „200 Polizeibeamte in konzertierter Aktion“.
Da kann man schon mal einen Schreck bekommen! Jetzt geht es also auf der rechten Seite auch los! Überrascht? … Aber ich traute meinen Augen kaum, als ich dann die Meldungen las: fünf Leute wurden hochgenommen, Feuerwerkskörper sichergestellt, die Typen hatten sich verschiedener Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte schuldig gemacht, Fenster eingeworfen und bedauernswerte Schutzsuchende mit Knallern in Angst und Schrecken versetzt. Eklig, verabscheuungs- und verurteilungswürdig, keine Frage!
Andererseits: Es vergeht kein Tag, an dem uns nicht Nachrichten über dutzende, manchmal hunderte Todesopfer islamistischer Terroristen erreichen.
Wir haben offensichtlich ein Definitionsproblem! Was ist Terror? Was ist Terrorismus?
Der Begriff, inflationär, wie er genutzt wird, ist wie ein leerer Behälter, in den jeder sein Privatverständnis gießen darf. Auch die Fachliteratur leidet unter dieser Unschärfe. Entweder man flüchtet sich in extrem ausdehnbare Gummibegriffe, wie Pettiford und Harding: „Terrorism can be defined as violance against (innocent) civilians“, oder man macht es wie einst Yasser Arafat, der das Motiv zum Zünglein an der Waage machte: „The difference between the revolutionary and the terrorist lies in the reason for which each fights. For whoever stands by a just cause and fights for the freedom and liberation … cannot possibly be called a terrorist.” Unklar bleibt in dieser Logik, was eine “gerechte Sache” ist.
Diese Schwierigkeit nimmt Gilles Keppel auf und interpretiert Terrorismus mithilfe der Lyotardschen Kategorie der „Großen Erzählungen“: „Weil dem Begriff ‚Terrorist‘ ein absoluter moralischer Makel anhaftet, mußten alle, die ihn im Brustton von Recht und Gerechtigkeit gebrauchten, die edelsten Werte der durch den Terror bedrohten Zivilisation verkörpern.“ Damit kommen wir der Motivlage des heutigen Begriffsgebrauchs schon sehr nahe, es ändert aber nichts an der Schwierigkeit, die Vielfalt der Erscheinungen zu überblicken. Eine interessante und sehr umfängliche Aufzählung gibt Manfred Funke und der Frage, warum der Terrorismus so schwer zu definieren ist, geht recht ausführlich Bruce Hoffman nach. Am Ende seiner Argumentation gelingt ihm immerhin ein negatives Auschlußverfahren: Man müsse Terroristen zumindest von gewöhnlichen Kriminellen und geisteskranken Attentätern unterscheiden. „Der Terrorist ist prinzipiell Altruist: er glaubt einer ‚guten‘ Sache zu dienen …“ – Arafat läßt grüßen.
Man wird der Frage nicht Herr, wenn man den empirischen Bereich nicht verläßt. Incipit philosophia. Herfried Münklers Denkweise ging in diese Richtung, als er weniger den „materiellen Schäden“, sondern mehr „dem Schrecken, der dadurch verbreitet wurde“, Aufmerksamkeit schenkte. „In diesem Sinne ist Terrorismus als eine Kommunikationsstrategie“ anzusehen. Weniger der Terrorist ist also von Interesse, sondern die Medien: „Ausschlaggebend für die Verselbständigung des Terrorismus ist vielmehr die Verbindung der Gewaltanwendung mit der Mediendichte und dem offenen Medienzugang … Fehlt eine entsprechende Mediendichte oder unterliegt die Berichterstattung einer politischen Zensur, haben terroristische Strategien nur geringe Erfolgsaussichten.“
Peter Sloterdijk blies seinerzeit noch ins gleiche Horn und erhöht die Abstraktionsebene, wenn er den Terror „seinem Verfahrensprinzip nach atmoterroristisch verfaßt“ beschreibt, als „Prinzip des Angriffs auf die Umwelt und die Immunverfassung eines Organismus oder einer Lebensform“.
All das, wohlgemerkt im Reflektieren über die Mutter des modernen Terrorismus: die Terrorattacken des 11. September 2001.
Wenn wir uns dieses Großereignis vor Augen führen und mit dem Werfen von „Polenböllern“ kontrastieren, dann wird unmittelbar evident, daß die Nutzung des Terror-Begriffs, wenn dieser überhaupt einen Sinn haben soll, ein Fehlgriff sein muß. Auch die Einführung der Kategorie der Angst hilft da nicht weiter. Ich selbst bin einst von Skinheads als „linke Zecke“ brutal zusammengeschlagen worden und habe seither Angst vor Glatzen (nicht vor Zecken – statistisch wäre das sinnvoller), aber diese rein kriminelle Tat als Terrorismus zu deklarieren, wäre absurd.
Es wurden „Justin S., 18, Rico K., 39, Maria K., 27, Sebastian W., 26, und Mike S., 26“ festgenommen, sie arbeiteten mit dem passenden Codewort „Obst“. Ein Mike scheint bei den Neonazis immer dabei zu sein – meiner hieß auch schon Mike – und ein Justin oder Kevin kommt auch nicht überraschend. Vielleicht hätte auch der Abschnittsbevollmächtigte genügt, diese Typen, diese kleinen Kriminellen festzunehmen, aber ich vermute, die GSG9 musste sein, weil man politische Handlungsfähigkeit demonstrieren und das Terrormodell spiegelbildlich nutzen wollte. Nicht nur der Terror heißt „Schreckensbotschaft“, auch der Anti-Terror nutzt die mediale Macht.
Und das scheint – bei allen Vorbehalten und nur von den bisherigen Informationen ausgehend – der wahre Sinn der Meldung zu sein. Man will uns weismachen, daß es spiegelbildlich zum islamistischen Terror, mit all seiner Potenz, seinem gigantischen ideologischen Überbau und seiner vielfältigen strukturierten Organisation, der seit 9/11 mehr als 28000 Todesopfer zu verantworten hat, allein im letzten Monat fast 800, in Europa mehr als 300 …, daß es parallel dazu einen gleichwertigen rechtsradikalen Terror gäbe. Vielleicht gibt es den auch als Möglichkeit, nur fehlen dafür sämtliche Beweise. Stattdessen schafft man eine unsägliche begriffliche Ausweitung der Kampfzone, schafft mit der Skandalisierung erst ein potentielles terroristisches Milieu, denn jetzt „hat man“ die Medien, die „Mediendichte“ und entleert einen ohnehin schon kaum noch brauchbaren Begriff zur sinnlosen Worthülse.
Die fünf Verbrecher werden nun wohl auf lange Zeit hinter Gitter gehen – vor drei Jahren wären sie vielleicht noch mit ein paar Arbeitsstunden davon gekommen.
Es bleibt zu fürchten, daß der nächste gezündete Sprengstoffgürtel oder die kommenden Maschinengewehrsalven in Menschenmengen diese dümmliche Kategorien-Verschiebung de facto wieder gerade rücken wird.
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Ergänzung 20.4.: Offensichtlich geht das einigen Schreibtischtäterjägern selber auf – deswegen präsentieren sie uns schnell diese gefährliche Bande von „Rechtsterroristen“ noch hinterdrein: Die Zeit: Reichsbürger: Ein Volk, viele Reiche, noch mehr Führer
Also, Leute, mal ganz prinzipiell: Böller in Häuser zu werfen, wo Leute sind, die gerade erst einen extrem blutigen Bürgerkrieg miterlebt haben – das ist einfach brutal.
Wenn auch natürlich nicht zu vergleichen mit Kopfabschneiden, Frauen und Mädchen ab dem 1. Lebensjahr in die Sklaverei verkaufen (die jüngsten bringen am meisten Geld), Kindern vor den Augen ihrer Eltern die Kehle durchschneiden, sie vergewaltigen oder lebendig begraben usw.
Trotzdem.
Aber:
Daß die Böller-„Terroristen“ dagegen protestieren oder es gar verhindern wollen, daß die oben genannten Sitten auch hierzulande Fuß fassen, scheint mir ein irgendwie nicht ganz unnachvollziehbares Motiv zu sein. Daß ihre Aktionen – im Gegensatz zu denen anderer „besorgter junger Menschen“ wie der Baader-Meinhof-„Gruppe“ und Antifa und Attack unblutig sind, läßt mich – unangemessenerweise? – erleichert wieder ausatmen.
Aber offenbar sieht das der Justizminister ganz anders und meint, den „Anfängen wehren“ zu müssen. – Auch gut.
Aber seltsamerweise fallen seine Reaktionen auf linksextremistische „Entglasungsaktionen“ und „Wagensport“ sehr viel weniger energisch aus. Die sehen stets eher wie „Gespielte Entrüstung ohne Folgen“ aus und die Entrüstung hat vor allem eine extrem kurze Halbwertszeit:
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bei-pegida-aufzug-in-dresden-brennen-autos-14034381.html
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/linksextremisten-in-leipzig-funken-in-der-nacht-13642283.html
Und hier eine Zusammenstellung, die die „Antifa“/“Autonomen“-Kämpfer dankenswerterweise unter dem Titel „Randalemeister 2015“ ins Netz gestellt haben:
https://linksunten.indymedia.org/de/node/160914
Patronenhülsen auf der Fußmatte
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/aggressiver-kampf-gegen-afd-politiker-14035639.html
Und last not least:
http://www.rolandtichy.de/meinungen/hate-posts-zwei-sorten-boeser-und-guter-hass/
sowie
https://tapferimnirgendwo.com/2016/04/06/islam-fakten/
Es ist schon eine seltsame, eine verrückte Welt geworden.
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Es ist immer wieder eine Wonne, hier herumzustöbern!
Übrigens habe ich mich ein bißchen erschreckt, weil sie von Münkler in der Vergangenheitsform sprechen… Was kein Vorwurf sein soll – ich bin wohl nur zur Zeit etwas empfindlich. Aber nach allem, was man von den ehrabschneidenden Angriffen seiner Studenten gegen ihn gehört hat, flitzten meine Gedanken sofort in alle möglichen Richtungen:
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/studenten-kritisieren-herfried-muenkler-anonym-13611258.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
Jetzt bin ich beruhigt. Und sogar – nachdem ich Ihre Antwort auf Pérégrinateur gelesen habe – erheitert.
Ihre Beobachtung zu den Namen „Mike, Justin und Kevin“ … Ja, die „Mikes“ müssen ja schon froh sein, wenn sie wenigstens nicht „Maik“ geschrieben werden… Aber das Spötteln ist vielleicht, nein, auf jeden Fall ungerecht, denn es trifft das unschuldige Opfer diskussionswürdiger elterlicher Entscheidungen. Und vielleicht war die Wahl eines amerikanisch klingenden Namens in der DDR mal geradezu ein subversiver Akt (oder unterschwelliges Bekenntnis zur Sehnsucht nach der Ferne, dem unerreichbaren Westen), und die falsche Schreibweise die arglose Lautverschriftlichung einer zum Russischlernen verdonnerten Bevölkerung.
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Das freut mich – vielen Dank!
Münkler ist ja leider nicht der einzige, der unter dem Druck „linker“ Studenten-Überwachungskorps leidet und umgekehrt gibt es, wie mir Studenten versichert haben, den Prozeß ebenfalls. Übrigens auch lateral, unter den Studenten. Zumindest in den Sozialwissenschaften ist das weit verbreitet und es gibt also gute Gründe „progressiv“, also links, antifaschistisch, grün, tolerant, willkommenskulturell etc. zu sein. Eine andere Meinung führt schnell zu Einsamkeit.
Ein tatsächliches Ereignis hatte ich vor Monaten hier nacherzählt – so wurde es mir aus absolut vertrauenswürdiger Quelle berichtet:
https://seidwalkwordpresscom.wordpress.com/2015/11/11/stimmungen-verstimmungen/
Hat sich am Ende für die junge Frau sogar als Glücksfall erwiesen, denn danach schaffte sie es, sich von ihren moralischen Freund_innen zu lösen und fühlt sich jetzt deutlich freier.
… Die Mikes/Maiks dieser Welt werden mir den kleinen Spaß sicher verzeihen. Ich kenne viel mehr angenehme Zeitgenossen dieses Namens. Die Namensgebung als heimlicher Widerstandsakt … da könnte was dran sein, ist mir nicht in den Sinn gekommen.
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Die Unterscheidung von Terrorismus und Antiterrorismus fällt dem ungebundenen Vergleicher zuweilen schwer. Doch dank der gängigen, im Bauche verankerten Überzeugung und ihres Korrolars – Wir sind die Guten! Aber das kann man doch nicht vergleichen! – kommt man nie in Verlegenheit. Handlungs- und wertungsleitende Impulse haben ohnehin einen Sitz, der weit tiefer liegt als die Meningen.
Dies als bescheidenes Kränzlein am Grabe des Heiligen Ambrosius von San Francisco. (Ambrose Bierce)
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Demnach wäre das Festnahmespektakel mit GSG 9, doppelter Kompaniestärke und Medientsunami also ein terroristischer Akt. 😉
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Münkler hat wohl die Definition Raymond Arons übernommen, die meiner Erinnerung nach etwa so lautete: Terroristisch ist jede Tat, deren psychologische Wirkung ihre physische weit übertrifft.
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