Warum Köln uns trifft

„Think but how vile a spectacle it were
To view thy present trespass in another.
Men´s faults do seldom to themselves appear
Their own transgressions partially they smother.“
(Shakespeare: The rape of Lucrece)

Seit Tagen tobt die Schlacht um die Deutungshoheit eines bislang einmaligen Ereignisses: der kollektive Angriff von mutmaßlich fremdländischen Männern auf hunderte Frauen an geschichtsträchtigem Ort in Köln. Sie wurden beraubt, belästigt, begrapscht, mehr noch, sie wurden im Wort- und übertragenen Sinne vergewaltigt. Diese Tat trifft die Öffentlichkeit in Deutschland ins Herz. De iure dürfte der linke Kolumnist Augstein mit seinem Zynismus recht behalten – es waren „minderschwere Straftaten“ – de facto aber könnte sich ein umfassender Paradigmenwechsel andeuten, gegen den die Mainstream-Medien sich mit Händen und Füßen wehren. Selbst ein Bataclan in Berlin hätte kaum solch eine Wirkung gezeitigt wie die Notzuchten von Köln.

Rubens: Tarquinius und Lucretia (© Wikipedia public domain)

Rubens: Tarquinius und Lucretia (© Wikipedia public domain)

Das Ereignis spricht ein archetypisches, tief in unserer Kollektivseele verwurzeltes Bild und Gefühl an und weil es überkulturell, also anthropologisch grundiert ist, können es auch Menschen aus anderen patriarchalischen Kulturkreisen – unbewußt oder willentlich – aktivieren, muß man es folglich mit einer „archetypischen Hermeneutik“ (Drewermann) befragen.

Schon in den Homerischen Gesängen wird vergewaltigt was das Zeug hält. Frauenraub – ein gängiger Euphemismus – findet in alle Richtungen statt: Kastor und Pollux vergewaltigen die Töchter des Leukipp, Hades „entführt“ Persephone und Zeus nimmt sich in vielerlei Gestalt jede Jungfrau, die ihm gerade zusagt. Auch die Trojanischen Krieger wußten um die Macht dieser Untat und „nahmen sich“ die Frauen ihrer besiegten Feinde, die erst dann endgültig besiegt waren, wenn die Weiber geschändet werden konnten.

Auch im Alten Testament wird fleißig entehrt – was eifrige Youtube-Milchbubis zu dem Dummjungenstreich verleitete, eine „Bibel“ (die Differenz zwischen AT und NT war wohl unbekannt) in einen Koran-Umschlag zu hüllen und somit naive Passanten zu schocken … ein viraler Hit (and Run), den deutsche Qualitätsmedien gerne weiter verbreiteten. Dabei ging es im Koran und bei Mohammed selbstverständlich auch nicht zivilisierter zu – hier schweigt des Sängers Höflichkeit – und wer will, kann Zwangsheiraten und Vielehen schon unter dieser Perspektive betrachten.

Peter Sloterdijk hatte verschiedentlich die Verbindung zwischen Vergewaltigung und Zivilisationsprozeß exemplifiziert. Als Rom unter Romulus immer weiter erstarkte, da Massen an Flüchtlingen, Vertriebenen und Desperados die Stadt als Neuanfang entdeckten, hatte man – so berichtet es Livius – ein massives Problem: Es fehlte an Weibern. Mit einem perfiden Trick lud Romulus die Sabiner (ein Nachbarvolk) ein und während man fleißig zechte, raubte man in einem gut orchestrierten Überraschungscoup die Jungfrauen – der berühmte Raub der Sabinerinnen. Diese Geschichte nimmt ein gutes Ende, denn als es zum Krieg kommt, stellen sich die Neurömerinnen – mittlerweile geschwängert und verheiratet – den eigenen Vätern und Brüdern entgegen. Geboren war der erste gesellschaftliche Vertrag.

Mehr noch aber meint Sloterdijk die Gründung der Republik: „Wer Rom erwähnt, sagt zugleich res publica, und wer von dieser spricht, sollte nicht versäumen, nach dem Geheimnis ihrer Anfänge zu fragen.“ Und diese Anfänge liegen mythologisch in einer Vergewaltigung. Tarquinius Superbus, ein junger etruskischer Königssohn, konnte den Reizen der bereits verheirateten Lukretia nicht widerstehen und bemächtigte sich ihrer. Diese konnte die Schmach nicht ertragen, aber bevor sie ins Schwert lief, alarmierte sie Familie und Volk, die den Prinzen vertrieben und damit die Herrschaft der Etrusker beendeten. „Aus der Konvulsion der Bürger erwächst eine folgenschwere Idee: Die Gemeinwesen-lenkung wird künftig allein von Römern ausgeübt werden, sie wird pragmatisch und profan erfolgen. Zwei Konsuln halten sich gegenseitig in Schach, ihre jährliche Neuwahl beugt jeder erneuten Verwechslung von Amt und Person vor.“ Incipit res publica nebst Gewaltenteilung und Urnengang.

Schon immer und überall haben Frauen auf diesen „trespass“, diesen Übergriff mit selbstzerstörerischen Tendenzen reagiert, zu groß die Scham, zu massiv der Eingriff, zu hilflos das Empfinden. Die voraussehbare Reaktion ist Teil des Macht-„Spiels“ und wird vom Täter sowohl gewußt als auch genossen. Vergewaltigungen haben unzählige Facetten – ihre komplette innere Logik zu verfolgen ist kaum möglich. Der Faktor der Macht ist freilich unübersehbar. Nicht selten ist es eine Kampfansage an den feindlichen Mann oder dessen Emanation, den patriarchalen Staat. Indem man die Frau des anderen Mannes „besitzt“, hat man diesen besiegt.

Wenn Männer beim Grenzübertritt von beblümten „Jungfrauen“ wie Befreier empfangen werden, wenn sie mehr noch in einer Kultur aufwachsen, in der sie Frauen nur als allmächtige und umhangene Mütter und Schwestern kennen, wenn sie ihren ersten Geschlechtskontakt idealtypisch erst in der Hochzeitsnacht mit einer oft ungewollten und unbekannten und unbefleckten Frau ausführen sollen, wenn sie zudem die Welt in Gläubige und Ungläubige zu teilen gelernt haben, wenn in dieser Welt unverhüllte und ungläubige Frauen als minderwertig gelten, wenn ferner auf Übergriffe weder von der Exekutive noch von den unmittelbar betroffenen Beschützern adäquate Gegenwehr zu erwarten ist …, dann ist das Bett bereitet worden für eine sozialpsychologisch begründbare gruppendynamische Enthemmung, umso mehr wenn sie orchestriert stattfindet.

Man muß kein Kenner der Mythen, Sagen und Heiligen Bücher sein, um das kulturübergreifende Urbild wahrzunehmen und als Erobererverhalten zu dechiffrieren. In der gesamtgesellschaftlichen Affektreaktion zeigt sich aber auch ein letzter Rest eines nationalen, europäischen, zivilisatorischen „Wir“-Gefühls. So ist das „ganze Land“ in der Tat „zivilisatorisch zurückgeworfen worden“, aber vielleicht ist es auch das Fanal für eine zivilisatorische Ermannung.

Literatur:
Drewermann, Eugen: Tiefenpsychologie und Exegese. Traum, Mythos, Märchen, Sage und Legende. 1993
Sloterdijk, Peter: Zorn und Zeit. 2006

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